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Tiefgang

Wie der Kreml den Nahostkrieg für seine Propaganda nutzt

Es gibt kein Drama auf der Welt, das nicht noch Mittel der Bösartigkeit würde. Der Krieg im Nahen Osten: Die Propaganda des Kreml und seiner Handlanger nutzte den Konflikt, um in Frankreich und Deutschland Stimmung zu machen – gegen die USA, gegen Regierungspolitik, gegen Migranten, alles mit dem Ziel, die Unterstützung der Ukraine durch den Westen zu unterminieren.

Seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres versuchte ein Kreml-nahes Netzwerk auf Facebook, so Gewinn aus der Lage in Nahost zu schlagen – und zwar sowohl aus dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel als auch aus der Gegenwehr und Israels unbarmherziger Kriegsführung in Gaza: Hauptsache, es dient russischen Zwecken. Das ist das Ergebnis einer Untersuchung des Institute for Strategic Dialogue, die heute erscheint. SZ Dossier lag sie vorab vor.

Solche Praktiken der Desinformation, mit der autoritäre Regime in die Debatten demokratischer Gesellschaften einzugreifen versuchen, werden von Regierungen in Europa seit Langem beklagt, aber gern als eine Art technisches Problem behandelt, selten als Mittel in einem Informationskrieg benannt. Das hätte ja zur Folge, dass die Einschätzung womöglich neu getroffen werden müsste, ob Russland nicht längst dabei ist, den Westen in der ein oder anderen Weise direkt anzugreifen: Indem Ängste verstärkt, Stimmungen erzeugt, Spaltungen vertieft werden.

Die Analyse des ISD nennt für all dies Beispiele. Sie identifizierte seit dem 7. Oktober 2023 und bis Ende August 192 kremlfreundliche Facebook-Anzeigen. Sie verfolgten die Absicht, militärische Unterstützung und humanitäre Hilfe für die Ukraine zu untergraben und Zwietracht zu säen; teils mit bekannten Erzählungen, teils mit neuen, teils auch mit haarsträubenden – warum nicht mal versuchen! Mehr als ein Drittel der Anzeigen behauptete etwa, die Ukraine reiche vom Westen gelieferte Waffen an die Hamas weiter.

Ein knappes Drittel beschuldigte die USA, Kriege zum eigenen Vorteil sowohl in der Ukraine als auch in Nahost zu führen. Dass es dem Netzwerk da weniger um Ideologie als um den praktischen Nutzen von Antiamerikanismus links wie rechts geht, belegen die widersprüchlichen Vorwürfe diesbezüglich: Ein Muster besteht in der Kritik an amerikanischer Unterstützung für Israel, ein anderes in deren Ausbleiben. Die Urheber der Anzeigen „scheinen jede Erzählung über Gaza zu nutzen, die am besten zu ihrer allgemeinen Position zur Ukraine passte“, sagte Anna Hiller, die Autorin der Analyse.

Die meisten Anzeigen waren schnell identifiziert und offline genommen und erreichten im Durchschnitt nur gut 6000 Augenpaare. Das aber immer wieder: „Wir haben jedoch beobachtet, dass Inhalte, sobald sie verschwunden waren, von einer anderen Seite erneut gepostet wurden“, sagte Hiller: Dahinter steht nach den Erkenntnissen ein Netzwerk, das starke Ähnlichkeiten mit der Doppelgänger-Kampagne hat, die Namen und Erscheinungsbild etablierter Medien kaperte, um russische Propaganda zu streuen.

So etwa, diesmal, mit der Behauptung, Inflation und hohe Energiepreise seien eine direkte Folge der Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen; die Erzählung, Frankreich und Deutschland seien Opfer der Entwicklungen, während die USA mehr Gas verkaufen und daher profitieren.

Die Sache ist die: Einiges an russischer Propaganda wird längst nicht mehr nur im Verborgenen gestreut, über „koordiniertes unauthentisches Verhalten“, wie Desinformation von den Plattformen gern genannt wird, auf denen sie zuhause ist, als sei sie eben ein technisches Problem. Sie hat den Sprung längst geschafft. Sie ist in Wahlkämpfen der AfD und des BSW zu hören. Es geht der Desinformation nicht darum, die Leute in sozialen Netzwerken ein wenig zu verwirren: Sie will offline wirken, im echten Leben, und Wahlen und politische Entscheidungen beeinflussen.