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Tiefgang

„Wir sitzen in der Stabilitätsfalle“

Litauens Außenminister bestellt Führung – in der Unterstützung der Ukraine, in der Sicherheitspolitik, im Umgang mit dem Aggressor Russland. „Deutschland sollte keine Angst vor seiner eigenen Führungsrolle haben“, sagte Gabrielius Landsbergis im Interview. „Deutschland hat definitiv die Fähigkeit dazu. Warum sollte ein Land, das so gut akzeptiert ist und das Potenzial für so eine Rolle hat, davor zurückschrecken, vor allem, wenn Führung gebraucht wird?“

Landsbergis ist einer der wortmächtigsten Trommler für eine entschiedene Unterstützung der Ukraine in Europa. Auch in seinem Land findet der Kurs nicht nur Freunde – aber eine politische Mehrheit. Seine Amtszeit und sein Wahlkampf – am Sonntag in einer Woche wird das Parlament neu gewählt – standen unter dem Motto einer kompromisslosen Klarheit. So kann man als Regierung also auch kommunizieren, sogar mit guten Erfahrungen.

Wie das geht? „Wir versuchen, sehr offen und transparent zu kommunizieren und auch die Dinge zu erklären, die vielleicht nicht so gut ankommen“, sagte Landsbergis. „Meine Erwartung ist, dass die Menschen sich am Ende für diejenigen entscheiden, die transparent sind und klar sagen, was Sache ist.“ Seine Botschaft ist die: Wenn Putin in der Ukraine nicht gestoppt wird, könnte er als nächstes im Baltikum die Nato auf die Probe stellen. „Das ist es, was ich ausländischen Staats- und Regierungschefs vermittle, aber auch das, was ich meinen Leuten zuhause sage.“

Das ist ein riskantes Vorgehen, na klar, Wahlumfragen belegen das auch. Aber nun: „Es gab Befürchtungen, dass die Menschen verängstigt und besorgt sein würden“, sagte Landsbergis an die Adresse der Besorgten und Besonnenen. „Das Ergebnis war, dass wir es geschafft haben, 3,2 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben.“ Gefahren zu benennen kann bedeuten, sie politisch handhabbar zu machen. „So ist es uns selbst in einem Wahljahr gelungen, eine nachhaltige Finanzierung zu erreichen, aus tatsächlichen Einnahmen und nicht aus geliehenem Geld“, sagte er beim Gespräch in der Bibliothek der litauischen Botschaft.

Litauen tut viel – sowohl für die eigene Sicherheit an der Ostflanke der Nato als auch zur Unterstützung der Ukraine. Ganze Kraftwerke demontieren sie, verschicken sie, ersetzen sie daheim durch neue. „Jedes Mal, wenn wir diese riesigen Maschinen in die Ukraine schicken und diese sie installiert, werden sie sofort zum Ziel, wenn es keine ausreichende Luftverteidigung gibt“, sagte er. „Das hält uns nicht auf – aber ich sage es den Partnern im Westen immer wieder: Wir schicken die Kraftwerke, schickt ihr bitte Luftabwehr. Irgendetwas, damit wir wissen, dass dies nachhaltig ist.“

Dass die Unterstützung zögerlich kommt, frustriert den Minister. „Russland greift diejenigen an, die in den Augen des Kremls schwächer erscheinen. Wenn der Preis für einen Angriff zu hoch ist, werden sie höchstwahrscheinlich nicht weitermachen. Das ist eine realistische Annahme“, sagte er. Aus ihr folgt: „Wenn wir die Ukraine nicht in die Lage versetzen, Russlands Aggression zu widerstehen, wird Putin weitermachen.“ Die Menschen „verstehen das“, sagte er. „Zeigen Sie mir eine Person, die das nicht tut, tief im Inneren.“

Erfolgreiches Handeln beginnt zumeist damit, ein Ziel zu definieren. Die westlichen Partner der Ukraine tun sich aber schwer damit, sich auf ein gemeinsames zu einigen. Dass die Ukraine in der Lage sein soll, zu gewinnen, Russland zurückzudrängen, ihr Territorium zu sichern, dass sie bloß nicht verlieren soll – je nachdem, wen man fragt, erhält man diese und mehr Antworten.

Wie kommt das? „Ich finde das ehrlich gesagt etwas seltsam“, sagte Landsbergis. „In Litauen war es immer ganz klar: Wenn man Steuergeld für Kriegssysteme verwendet, muss man ganz klar sagen, was man erreichen will.“

Es geht ja um Entscheidungen. In anderen Hauptstädten Europas als Berlin ist den Regierenden klar, dass man nicht alles auf einmal haben kann, und sie sagen es auch. „Warum investieren wir nicht in eine Schule, in ein Krankenhaus, sondern in den Erhalt der Ukraine? Darum: Wenn sie verliert, gewinnt Putin, und dann ist die Hölle los“, sagte Landsbergis. „So haben wir es unseren Leuten erklärt.“

„Wenn wir kein Ziel haben, dann geben wir einfach eine Menge Geld aus“, sagte er. In New York sagte US-Präsident Joe Biden schließlich, die Ukraine müsse gewinnen. „Wenn man eine Strategie auf diese einfachen Worte aufbaut, kann man mehr Menschen überzeugen“, sagte Landsbergis. Ob er sie sich vom Bundeskanzler wünsche, ließ er unbeantwortet.

Landsbergis sieht eine Priorisierung stabiler, wenn auch schlechter Verhältnisse als Treiber der Freunde der Besonnenheit. „Es ist eine Stabilitätsfalle“, sagte er. „Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um an der Realität festzuhalten, die wir während des Kalten Krieges und danach geschaffen haben. Jede plötzliche Bewegung und jede Reaktion könnte ihr schaden. Deshalb verschanzen wir uns in dieser Version der Realität.“

Die Reise in dieser Woche – Berlin, Warschau, Straßburg – war die letzte vor der Wahl. Ein ernüchterter Minister schaut da auf die Welt und auf seine Partner, die viel tun, aber in seinen Augen nicht genug. „Wir sind nicht in der Lage, einmal etwas zu versuchen, das uns Sicherheit geben würde. Stattdessen reden wir uns ein: Das System ist immer noch stabil. Als ob die Ukrainer auf magische Weise in der Lage wären, ohne Waffen, ohne Hilfe, zu gewinnen. Oder als würde Putin schon irgendwie aufhören“, sagte er. „Wir stecken sehr tief in den Gräben dieser Realität. Wir wollen sie festhalten, auch wenn sie um uns herum zerbröckelt.“