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„Wir haben mitnichten eine Notlage“

Für wenige Zentimeter politischen Landgewinns, sagt die Grüne Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner, werde gerade viel gesellschaftspolitisches Porzellan zerschlagen. Was sie damit meint? Die Art und Weise mit der zurzeit die Debatten über Migration geführt werden. Die Botschaften, der Sound, das sei „wirklich gefährlich“, sagt Dörner.

Die 48-Jährige war von 2009 bis 2020 Bundestagsabgeordnete ihrer Partei, war stellvertretende Fraktionsvorsitzende, bis sie für das Amt der Oberbürgermeisterin der Stadt Bonn kandidierte – und gewann. Seit knapp vier Jahren steht sie nun an der Spitze der Bundesstadt, seit dem vergangenen Jahr ist sie zudem Vizepräsidentin des Deutschen Städtetages.

Klar, Flucht und Migration, das stelle auch ihre Stadt vor Herausforderungen. „Die betreffen insbesondere die Frage des ohnehin angespannten Wohnraums“, sagt Dörner. „Da haben wir große Probleme.“ Bonn sei die am stärksten wachsende Stadt in Nordrhein-Westfalen. Das sei einerseits positiv, führe aber zu einem extrem angespannten Wohnungsmarkt. Und dazu, „dass wir Schwierigkeiten haben Unterkünfte für Geflüchtete zu finden, sie insbesondere auch in Wohnungen unterzubringen“. Platzmangel herrsche auch in Schulen und Kitas, sagt Dörner. „Das sind Herausforderungen, aber wir haben mitnichten eine Notlage. Und Migration ist auch in keiner Weise die Mutter aller Probleme.“

Die lägen an anderer Stelle: Die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen laufe zu langsam ab, zum Beispiel. „Das frustriert einerseits die Menschen, die zu uns kommen, aber es frustriert auch die Stadtgesellschaft, weil sie das Gefühl hat, da sind Menschen, die eigentlich arbeiten könnten, es aber nicht tun.“ Außerdem bräuchten Geflüchtete schneller Klarheit über ihre Perspektive, gegebenenfalls auch darüber, dass sie nicht in Deutschland bleiben können. Die Verfahren des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge dauerten aber viel zu lange. „Und das macht Integration schwierig“, sagt Dörner. Und letztendlich geht es natürlich auch ums Geld: Weil die Finanzierung für die zugewiesenen Geflüchteten nicht ausreiche, entstehe im Haushalt der Stadt Bonn pro Jahr ein Defizit von rund 20 Millionen Euro. Zum Vergleich: So viel gebe die Stadt jährlich insgesamt für ihre Kitas aus.

Die Oberbürgermeisterin plädiert daher dafür, weniger zu skandalisieren, weniger zu polarisieren und vielmehr über Lösungen zu sprechen. Schließlich nehme sie auf sämtlichen Veranstaltungen – vom Volksfest, über die Kita-Eröffnung bis zur Operngala – wahr, dass Menschen sehr wohl ansprechbar seien für eine differenzierte Darstellung der Situation und der Handlungsmöglichkeiten. Gerade gehe es aber ausschließlich um Abschiebungen und zu wenig um jene Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die bereits in Deutschland leben. Und es gehe zu wenig „um die Menschen, die kommen werden und die wir ja brauchen“. Diese Diskursverschiebung werde auch den Kommunen auf die Füße fallen. Schließlich stelle sich die Frage, wer beispielsweise in den Städten und Gemeinden in Zukunft Busse und Bahnen fahren werde, „und unsere Mandeln operiert“, wenn es nicht gelinge, Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben.

Dörner will daher dazu beitragen, die Diskussion zu versachlichen. Die Frage ist allerdings, wie das gehen kann. Die Grünen-Politikerin sagt, Fälle wie der in Solingen müssten getrennt betrachtet werden von der allgemeinen Diskussion über Migration. „Solingen müssen wir in erster Linie durch die Brille der inneren Sicherheit anschauen“, da gehe es um Radikalisierung und Islamismus. Überhaupt verbinde Islamisten und Rechtsextremisten „total viel“, sagt Dörner. „Die haben einen gemeinsamen Feind, die offene Gesellschaft.“ Und ihr gemeinsames Ziel sei es, diese Gesellschaft zu zerstören. „Dass das nicht gesehen wird, macht mich fassungslos“, sagt Dörner.

Noch eine Beobachtung stößt ihr sauer auf: Auch in Bonn würden mittlerweile Menschen, die sich für Geflüchtete engagieren, zunehmend kritisiert und müssten sich für ihre Arbeit rechtfertigen. Das sei „alarmierend“. Vom neuen Bundesvorstand ihrer Partei wünsche sie sich daher weiterhin viel Engagement „gegen populistische Vorschläge, die nur dazu dienen, die Gesellschaft zu spalten, aber in den Kommunen nichts bringen”. Tim Frehler

„Wir haben mitnichten eine Notlage“ (Tiefgang) | SZ Dossier