Testfall für Thüringen
Dem Freistaat Thüringen steht heute ein politisches Drama erster Güte ins Haus: Um 12 Uhr kommt der Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammen, die Abgeordneten wählen die Landtagspräsidentin oder den Landtagspräsidenten. Zentrale Frage ist, ob es den anderen Parteien gelingt, die Kandidatin der AfD für das Amt zu verhindern. Vorbereitungen dazu gibt es, doch die Sitzung könnte chaotisch werden. Eine Übersicht, worauf wir achten.
Was auf dem Spiel steht: Der Landtag braucht eine Präsidentin oder einen Präsidenten, sonst kann er nicht arbeiten, auch keinen Ministerpräsidenten wählen. Und wie ein Blick in die Verfassung zeigt, ist das Amt des Parlamentspräsidenten nicht zu unterschätzen: Sie oder er führt nicht nur die Geschäfte des Landtags, sondern übt dort auch Hausrecht, Ordnungs- und Polizeigewalt aus, leitet die Verwaltung und vertritt den Landtag nach außen. Ist ein Vertreter der AfD einmal gewählt, wird es schwer, sie oder ihn wieder aus dem Amt zu befördern. Eine Abwahl des Präsidenten ist zwar möglich, die Geschäftsordnung sieht dafür aber eine Zweidrittelmehrheit vor. Die kann die AfD mit ihrer Sperrminorität verhindern.
Wer antritt: Die AfD schickt Wiebke Muhsal ins Rennen. Muhsal hat in ihrem Wahlkreis das Direktmandat gewonnen – gegen CDU-Chef Mario Voigt. Die 38-Jährige wird zum engen Kreis der Höcke-Vertrauten gezählt und gehörte dem Landtag bereits von 2014 bis 2019 an. In dieser Zeit machte sie mit gleich mehreren unrühmlichen Vorfällen auf sich aufmerksam, trat etwa vollverschleiert im Landtag auf, um gegen den Islam zu hetzen. Ferner wurde sie rechtskräftig wegen Betrugs verurteilt, weil sie falsche Angaben zum Beschäftigungsverhältnis einer Mitarbeiterin machte und dadurch mehr Geld von der Landtagsverwaltung erhielt. Die CDU stellt mit Thadäus König den Erststimmenkönig der Landtagswahl auf.
Die Fallstricke: Die Geschäftsordnung des Thüringer Landtags sagt lediglich, dass die stärkste Fraktion das Vorschlagsrecht für das Präsidentenamt hat. Das ist in diesem Fall die AfD. Gewählt ist, wer die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhält. Die anderen Parteien können den Vorschlag der AfD also verhindern. Was dann? „Ergibt sich keine solche Mehrheit, können für weitere Wahlgänge neue Bewerberinnen beziehungsweise Bewerber vorgeschlagen werden“, heißt es in der Geschäftsordnung. Damit ist allerdings unklar, wie das weitere Prozedere genau ablaufen würde. Fachleute befürchten, die AfD könnte einfach einen ihrer Abgeordneten nach dem anderen zur Wahl stellen und eine Hängepartie provozieren.
Bereits im Frühjahr hat die Landtagsverwaltung allerdings dem Ältestenrat „eine Darstellung des Verfahrensgangs“ vorgelegt. Entscheidender Punkt: Ab dem dritten Wahlgang können auch andere Fraktionen Kandidaten vorschlagen. Gewählt wäre dann, wer die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhält, also mehr Stimmen als alle anderen. Der Ältestenrat nahm diese Darstellung des Verfahrens, wie es heißt, „bei drei Stimmenthaltungen zustimmend zur Kenntnis“. Wie die FAZ berichtet, stammen die Enthaltungen von der AfD. Ihre Vertreter stellen sich auf den Standpunkt, dass das Amt der AfD zusteht.
Der Schachzug von CDU und BSW: Die beiden Fraktionen haben gemeinsam einen Antrag formuliert, der heute vor der Wahl des Präsidenten auf der Tagesordnung steht. Konkret geht es darum, die Geschäftsordnung zu ändern. Und zwar so, dass alle Fraktionen schon für den ersten Wahlgang eigene Kandidaten aufstellen können. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob es überhaupt möglich ist, die Geschäftsordnung zu ändern, bevor der Landtagspräsident gewählt ist. Die AfD hält das für unzulässig. Es kursiert allerdings eine anderslautende Einschätzung aus der Landtagsverwaltung. Darin heißt es, dem neuen Landtag stehe es, „ab seinem Zusammentritt (…) frei, die Geschäftsordnung zu ändern“. Begründet wird das mit dem Selbstorganisationsrecht des Parlaments.
Viel wird heute vom Alterspräsidenten abhängen, der die Sitzung leitet. Den stellt mit Jürgen Treutler allerdings die AfD. Entscheidend wird sein, wie Treutler mit dem Antrag umgeht, ob er ihn überhaupt aufruft oder ob er der Auffassung seiner Partei folgt und den Landtag nicht für beschlussfähig hält, bis ein Präsident gewählt ist. Wie er vorgehen werde? „Lassen Sie sich überraschen“, sagte Treutler zuletzt.
Und dann? Wie es aus Kreisen des Landtags heißt, hält man es für möglich, dass die Sitzung vertagt wird, möglicherweise bis Freitag. In der Zwischenzeit müssten dann wohl die Thüringer Verfassungsrichter die Sache klären. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Torben Braga, sagte gestern, er sei optimistisch, dass eine Lösung gefunden werde, es gebe Möglichkeiten, Kompromisse zu treffen. Dass die AfD-Fraktion immer neue Mitglieder vorschlagen wird, schloss er aus. Tim Frehler