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Tiefgang

Der andere Kandidat

„Wir verwenden in Deutschland eine Menge Zeit und eine Menge Energie darauf, unsere Herausforderungen und Probleme zu beschreiben“, sagt Hendrik Wüst. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident steht auf einer Bühne im Chemiepark Dormagen. Von den Problemen gebe es zwar eine ganze Menge, „aber meine feste Überzeugung ist, wir sollten mehr der Energie darauf verwenden, Lösungen zu finden, Antworten zu diskutieren“. Dann, sagt Wüst, würden manche Probleme etwas schneller kleiner.

Wüst ist auf Sommerreise durch Nordrhein-Westfalen. Ein Mann, der gern Landesvater wäre. Vielleicht auch des ganzen Landes. Seit drei Jahren ist er Ministerpräsident des größten deutschen Bundeslandes, er ist seitdem zum profiliertesten CDU-Mann der Mitte geworden. Seine Koalitionspartner, die Grünen, verteidigt er gegen CSU-Chef Markus Söder, der ihnen die Regierungsfähigkeit abspricht. Die Zusammenarbeit in Nordrhein-Westfalen sei „vertrauensvoll und politisch erfolgreich“.

Die Schärfe des Berliner Streits zwischen den Ampel-Partnern, aber auch zwischen Union und Regierung, hält Wüst für gefährlich. Zuletzt hatte Parteichef Friedrich Merz der Ampel attestiert, „praktisch nicht mehr regierungsfähig“ zu sein. Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sagte er vor wenigen Wochen, in der Berliner Republik hätten sich „immer mehr Menschen – von den Bürgern bis hin zu Spitzenpolitikern – nichts mehr zu sagen“. Es sei „keine gute Entwicklung unserer politischen Kultur“, sagte er.

Spätestens seit Wüst im Juni des vergangenen Jahres in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Union als Partei der Mitte verteidigt hat, gilt er als interner Widersacher von Merz. „Fehdehandschuh“ soll der Parteichef den Gastbeitrag laut Zeit genannt haben. Wüst ist inzwischen zu einer Art Kandidat im Wartestand geworden. Sollte Merz doch noch stolpern, zum Beispiel wegen äußerst schwieriger Konstellationen nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland, stünde Wüst wohl bereit. Vor allem, wenn die CDU sich von der kleinen bayerischen Schwester keinen Kanzlerkandidaten aufbürden lassen will.

Wüsts Sommerreise ist also auch ein Blick darauf, wer er als Kanzlerkandidat sein könnte. Ein Stopp führt ihn in das Innovationszentrum der Polizei Nordrhein-Westfalen in Duisburg. Ihm werden Sensoren gezeigt, mit denen man in Zukunft datenschutzkonform die Atmung Inhaftierter überwachen kann, eine App, die verfassungswidrige Symbole erkennt, und der „Streifenwagen der Zukunft“. Wüst stellt der KI die Frage, was das Wichtigste sei, das das Innovationszentrum bisher gemacht habe. Die Vernetzung und Kommunikation unterschiedlicher Einheiten bis hin zu internationalen Organisationen, antwortet die KI.

Innere und äußere Sicherheit sowie die Vernetzung von Sicherheitsorganisationen treiben Wüst um, vor allem seit dem Anschlag in Solingen. Vom Auswärtigen Amt forderte er im Stern eine neue Lageeinschätzung, um eine Rechtsgrundlage für Rückführungen nach Afghanistan und Syrien zu schaffen. Für ihn ist das in seiner Rolle als einender Ministerpräsident ein neuer Ton, zu Beginn seiner politischen Karriere war Wüst aber auch mal ein rechter CDUler.

Überhaupt scheint ihm das Soziale weniger zu liegen als Law-and-Order oder Wirtschaftspolitik. Bei der Essener Tafel türmen sich Bananen, Zucchini, Artischocken. Eine Journalistin fragt Wüst, der vor einem Kühlregal steht, warum er nicht mit den Wartenden spreche, sondern direkt in die Tafel gegangen sei. „Ich bin doch gerade erst gekommen“, verteidigt er sich. Nach einem vertraulichen Gespräch mit dem Tafelleiter aber verabschiedet sich Wüst schnell. Die Leute, die vor der Tafel warten, haben auf den Ministerpräsidenten höchstens einen Blick im Vorbeigehen erhascht.