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Tiefgang

Die Eurobonds-Debatte ist zurück

José Manuel Barroso hat eine alte Debatte mit neuer Dringlichkeit versehen: Gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU könnte die Finanzierung der Ukrainehilfen und mehr gemeinsame Anstrengungen in der Sicherheitspolitik finanzieren helfen. „Ich denke, das ist unvermeidlich“, sagte er im SZ-Dossier-Interview auf die Frage, ob es an der Zeit dafür sei.

Der EU-Haushalt, finanziert durch Beiträge der EU-Länder, gelange an Grenzen: „Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Antworten“, sagte Barroso, der von 2004 bis 2014 Präsident der EU-Kommission war. „Eine Art Freiheitsanleihen wäre sinnvoll“, sagte er. „Wir können sie Freiheits- oder Friedensanleihen nennen.

Die Forderung, die EU anstelle direkter Transfers aus nationalen Haushalten mit eigenen Einnahmen aus dem Binnenmarkt auszustatten und auch eine eigene Kreditaufnahme zu erlauben, kehrte zuletzt mit einiger Wucht zurück. Die andauernde Unterstützung der Ukraine bis hin zum Plan, sie in die EU aufzunehmen, macht ein recht radikales Nachdenken über EU-Ausgaben notwendig, und damit – das Geschäft heißt Politik – auch über Einnahmen.

Die FDP-Europaabgeordnete Svenja Hahn widersprach umgehend: „Meiner Meinung nach müssen wir zuallererst eine Diskussion über Prioritäten führen“, sagte sie und diagnostizierte bei den Mitgliedstaaten einen Mangel an Ehrgeiz für diese Debatte und substanzielle Reformen. „Mit der Verschuldung zu beginnen, ist der falsche Ansatzpunkt für diese Diskussion.“

Wir drei sprachen auf einer Bühne auf dem Europäischen Forum Alpbach vor der Bergkulisse über die Weltlage und darüber, wie die EU und ihre Mitglieder jenseits von Sonntagsreden reagieren können. Auch mit dem Abstand zum Amt geht bei Barroso eine Entschiedenheit in der Einschätzung einher, zu der in Europas Hauptstädten längst nicht alle gekommen sind: „Ich halte den Einmarsch Russlands in die Ukraine heute für die schwierigste Herausforderung für uns in Europa“, sagte er.

„Die Welt ist nach dem Februar 2022 nicht mehr dieselbe, und es wird keine Rückkehr zum Status quo ante geben: Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein.“ In Barrosos Analyse folgt daraus auch die Notwendigkeit einer neuen Selbstvergewisserung der EU, einer neuen Härte in der Außenwirtschaftspolitik und einer gemeinsamen Sicherheitspolitik.

Erstens also: „Aus meiner Sicht ist die Entkopplung unvermeidlich“, sagte er über China, es könne zu einer „vollständigen Entkopplung“ in der Welt kommen. „Ich halte es für eine Tragödie, wenn wir uns aus wirtschaftlicher Sicht völlig auf China einlassen.“ Abhängigkeit sei zu vermeiden: „Wenn es eine Invasion Taiwans gibt oder wenn China Russland voll unterstützt, wenn die USA Sanktionen gegen China beschließen (…), dann glaube ich nicht, dass die Europäer sagen werden, wir bleiben bei China, nicht bei den USA.“

Zweitens dürfe sich Europa nicht auf andere verlassen bei den Zukunftstechnologien: Quantencomputer, künstliche Intelligenz, „all das, was jetzt in der Biotechnologie und der Genetik passiert“, sagte Barroso unter dem Hinweis, dass die Technologien zumindest auch für militärische Zwecke da seien.

„Wenn nicht, werden wir auf der einen Seite von den Amerikanern gefressen werden“, sagte er. „Sie sind natürlich unsere Verbündeten in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, aber in wirtschaftlicher Hinsicht liegen wir hinter den Vereinigten Staaten zurück, wir verlieren wirklich jeden Tag Positionen in diesen Technologien. Oder wir werden von den Chinesen überholt.“

Auch die Biden-Regierung war „nicht an vorderster Front dabei, wenn es um Handel oder Handelsabkommen mit Europa geht“, sagte Hahn. „Hier gibt es also einige Konflikte.“ Europa müsse seine Interessen „viel härter verteidigen“, sagte Barroso. „Wir dürfen nicht naiv sein, denn wir leben heute in einer Welt, in der die wirtschaftliche Effizienz nicht so wichtig ist wie die wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit.“

Und so gewinnt auch eine engere Zusammenarbeit unter EU-Staaten in der Sicherheitspolitik neue Freunde; von der Leyen hat dies schon einmal vorgedacht und mit dem Instrument der „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ dem Machbaren angepasst. Nun läuft ein Versuch weiterer Vertiefung.

Barroso kann sich auch noch mehr vorstellen als die schon gemachten Binnenmarkt-basierten Vorschläge. In offener Diskussion in vertraulicher Runde saßen wir in Alpbach mit Expertinnen und Experten auch eineinhalb Tage zusammen, um die Grenzen des Möglichen auszuloten.

„Ich bin der festen Überzeugung, dass der beste Weg, einen Krieg, einen allgemeineren Krieg in Europa zu vermeiden, darin besteht, uns darauf vorzubereiten, sodass wir Russland klar signalisieren, dass es ihn nicht gewinnen kann“, sagte Barroso im Interview gestern. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“