Europarecht setzt der Ampel Grenzen
Für die Bundesregierung könnte dieses Gutachten unangenehm werden. Gerade erst haben sich die Koalitionsspitzen im Rahmen der Haushaltsverhandlungen auf eine Abschwächung des deutschen Lieferkettengesetzes zur Entlastung der Wirtschaft geeinigt. Diese ist aber möglicherweise europarechtswidrig. Davon geht ein Rechtsgutachten der Jura-Professorin an der Universität Halle-Wittenberg, Anne-Christin Mittwoch, aus. Sie hat es im Auftrag der Umwelt- und Verbraucherorganisation Germanwatch und Oxfam Deutschland verfasst, es liegt SZ Dossier vor.
Demnach bestimme die EU-Lieferkettenrichtlinie, die noch in Landesrecht umgesetzt werden muss, dass das bestehende Schutzniveau nicht abgesenkt werden dürfe. Verstößt die Bundesregierung gegen EU-Recht, riskiert sie ein Vertragsverletzungsverfahren. „Die Anzahl der vom deutschen Gesetz erfassten Unternehmen mit Verweis auf die Richtlinie zu reduzieren – wie jetzt von der Bundesregierung vorgeschlagen – wäre europarechtswidrig“, sagte Mittwoch. Grund hierfür sei das sogenannte „Verschlechterungsverbot“.
Es besagt, dass die EU-Richtlinie nicht als Rechtfertigung für eine Senkung der Vorschriften der Mitgliedstaaten dienen darf. Die Bundesregierung könnte also nicht Arbeitnehmerzahl und Umsatzschwellenwert einfach heraufsetzen, um kleinere Unternehmen von den Berichtspflichten durch das deutsche Lieferkettengesetz zu befreien. Dabei ist das der Plan von Finanzminister Christian Lindner (FDP), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Habeck, durchaus ein Verfechter des europäischen Lieferkettengesetzes, schrieb in einem Brief an seine Parteifreunde, dass bei Unternehmen mit Blick auf die unterschiedlichen Regelungen in Deutschland die „Genervtheit steigt, die Akzeptanz schwindet“. Daher hätten sie sich entschieden, den Übergang vom deutschen zum europäischen Recht „einfacher und klarer“ zu machen. „Zur Ehrlichkeit gehört, dass in der Übergangsphase die Sorgfaltspflichten nicht verbindlich sind.“
Ein Sprecher des Bundeswirtschaftsministeriums wollte das Gutachten auf Anfrage nicht kommentieren. Die Beschlüsse der „Wachstumsinitiative“ im Rahmen der Haushaltsverhandlungen seien jetzt aber „Grundlage eines Prüf- und Umsetzungsprozesses in den Ressorts“.
Es war vor allem Lindner, der auf die Anhebung der Schwellenwerte bestand, weswegen zwei Drittel der deutschen Unternehmen ab Anfang 2025 nicht mehr unter das deutsche Lieferkettengesetz fallen. Dann wären weniger als 1000 Unternehmen betroffen, käme es bei diesen zu Verstößen, sollen sie, siehe Habecks Brief, nicht geahndet werden. Derzeit sind laut Schätzungen etwa 5000 Unternehmen verpflichtet, nach dem deutschen Lieferkettengesetz Umwelt- und Menschenrechtsstandards über die gesamte Lieferkette ihrer Produkte zu prüfen.
Größere Firmen geben ihre Verpflichtungen oft an kleinere Zulieferer weiter, über Umwege sind also weitaus mehr Firmen betroffen. Der Mittelstandsverbund klagt über ineffiziente Prozesse durch die Parallelität von deutschem Lieferkettengesetz und EU-Lieferkettenrichtlinie sowie Rechtsunsicherheiten, die viel zu langsam abgeräumt würden. „Das nunmehr veröffentlichte Rechtsgutachten bringt daher mehr Unsicherheit als sonst etwas“, sagte Hauptgeschäftsführer Henning Bergmann SZ Dossier.
Mangelende Planungssicherheit für die Unternehmen kritisiert auch Germanwatch, da die Firmen nur zeitweise von ihren Pflichten befreit würden, um sie dann nach etwa einem Jahr doch wieder erfüllen zu müssen. Cornelia Heydenreich, Leiterin des Bereichs Unternehmensverantwortung bei Germanwatch, fürchtet zudem, dass Betroffene im Globalen Süden in Verfahren gegen deutsche Unternehmen hängengelassen werden könnten, „weil das involvierte Unternehmen plötzlich von seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen entbunden wird“.
Die Grünen sind in Teilen nicht der Auffassung des Vizekanzlers. „Die Europäische Lieferkettenrichtlinie ist gegenüber dem deutschen Lieferkettengesetz ein Fortschritt“, sagte der Grünen-Politiker Wolfgang Strengmann-Kuhn SZ Dossier. „Aber es ist gut, dass bis zur Umsetzung der europäischen Richtlinie das deutsche Lieferkettengesetz weiterhin Gültigkeit hat.“ Fabian Löhe