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Tiefgang

Demokratische Dromedare und gefährdete Demokratien

Was haben Kamele mit der gesellschaftlichen Stimmung zu tun? Viel, wenn man den Berliner Soziologen Steffen Mau fragt. An ihnen lasse sich die Polarisierung im Land erklären. Die deutsche Gesellschaft sieht Mau als einhöckrigen Dromedar. „Wir haben immer noch einen großen Höcker von Demokratinnen und Demokraten, von Leuten, die sich durchaus über Themen verständigen können“, sagte Mau auf der Republica.

Also ist die Gesellschaft gar nicht gespalten, obwohl sich das oft so anfühlt? Nein, es gebe zwar einen kleinen Rechtshöcker, ein Problem mit rechtsextremistischen Bewegungen, aber bei zentralen Fragen erkenne er einen Konsens. Der Soziologe und zwei Kollegen haben mit „Triggerpunkte“ eine Studie vorgelegt, die sich die Polarisierung genauer angeschaut hat. Das Ergebnis: In den letzten 30 Jahren hat sich wenig verändert. Die Gesellschaft sei in ihren Einstellungen weder in Lagern zerrissen noch auseinandergedriftet.

Warum also die Lautstärke? „In dieser öffentlichen Debatte wird die Mitte eigentlich immer leiser“, sagte Mau. Man höre nur die Ränder und nehme an, dass sich die gesamte Gesellschaft in Lager zerlegt. Wenn es hingegen um die Verteidigung der Demokratie geht, müsse sich die gesellschaftliche Mehrheit – der große Höcker – immer auf das einende Ziel besinnen, sagte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt. Denn: „Die größten Bedrohungen für Demokratien kommen von innen“, sagte er während seines Auftritts.

Die Politikwissenschaft sei sich recht einig gewesen, dass alte und reiche Demokratien recht sicher seien. Trotzdem seien die Werte der Vereinigten Staaten bei Demokratieindizes in den vergangenen Jahren schlechter geworden. „Die Trump-Bewegung kann als Reaktion auf das sich diversifizierende Amerika betrachtet werden, und ich denke, dass die radikale Rechte in Europa heute eine ähnliche Angst befeuert“, sagte Ziblatt.

Laut Mau gibt es in Deutschland unterschiedliche Bereiche, in denen man sich streite. Doch die gefühlte Spaltung entstehe nicht von unten, sondern von oben. „Diese Spaltungen werden politisch und diskursiv erst erzeugt“, sagte Mau. Konkret durch Politiker, Parteien oder Medien, die aus Eigeninteresse bestimmte Triggerpunkte setzen. Als Beispiele nennt Mau Gerechtigkeitsverletzungen, etwa vermeintliche Sonderrechte für Minderheiten, oder Verhaltenszumutungen wie Tempolimits oder „Sprechverbote“.

Die vier Ungleichheitskonflikte teilt er ein: Oben-Unten, aber eben auch Innen-Außen, Wir-Sie und Heute-Morgen. Es geht nicht nur um Ökonomie, auch um Migration und Grenzen, Identitätspolitik und Ökologie. Laut Mau hätten sich viele Parteien noch nicht positioniert, bis auf Verteilungsfragen bildeten AfD und Grüne – endlich entspricht die gefühlte Wahrheit den Daten – die Ränder. In diesen Konflikten seien viele Wähler von Linke bis CDU sonst recht nah beieinander. Deshalb würden sich einige Politiker durch Triggerpunkte an einzelne Themen heften, um diese Ähnlichkeiten zu kaschieren.

Ziblatt, als Amerikaner mit der Perspektive einer tatsächlich gespaltenen Gesellschaft ausgestattet, nannte Wege, um mit autoritären Kräften umzugehen. „Das erste ist das klassische laissez faire, lasst den Wahlmarkt funktionieren“, sagte Ziblatt. Dieser Weg sei aber anfällig für Demagogen, die Wähler täuschten. Eine weitere Strategie bestehe darin, große Koalitionen zu bilden, um antidemokratische Parteien zu isolieren. Wie Ziblatt sagte, funktioniere das aber nur kurzfristig. „Langfristig ist es eine sehr gefährliche Strategie, denn sie verstärkt nur das Narrativ, dass die etablierten Parteien die Außenseiter auf lange Sicht ausschließen“, sagte Ziblatt.

Ziblatt plädierte deshalb vor allem für eine breite gesellschaftliche Mobilisierung. „Damit sind wir bei dem, was in Deutschland in den letzten fünf Monaten geschehen ist“, sagte er. Der große Dromedar-Höcker also muss die Demokratie versorgen. Die Menschen würden zunehmend müde, doch das gemeinsame Ziel, die Demokratie zu retten, dürfe nicht verloren gehen. Gabriel Rinaldi