Die vertane Gelegenheit
Was ist nicht alles geplant bei den Feierlichkeiten zu 75 Jahren Grundgesetz: Zwischen Kanzleramt und Paul-Löbe-Haus entsteht ein Dialogforum, die Ministerien bauen Pavillons auf, das Auswärtige Amt schenkt sogar Cocktails in Länderfarben aus, alkoholfrei natürlich. Deutschland feiert die Demokratie – und lässt dabei eine große Gelegenheit ungenutzt. Zumindest sieht das Katrin Göring-Eckardt (Grüne) so. Denn eine Perspektive fehlt: die der Ostdeutschen.
„Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, dieses 75-jährige Jubiläum mit der 35-Jahr-Feier der Friedlichen Revolution zu verbinden“, sagt Göring-Eckardt SZ Dossier. „Was wir im Moment erleben, ist, dass Teile der ostdeutschen Gesellschaft das Gefühl haben, sie gehören nicht richtig dazu, dass mit Ostdeutschen nicht auf Augenhöhe gesprochen wird.“ Dem hätte man etwas entgegensetzen können. „Schon in der Überschrift hätte man doch gut sagen können: 75 Jahre Grundgesetz, 35 Jahre Friedliche Revolution.“
Es seien übrigens nicht alle in der DDR gewesen, die der Bundesrepublik einfach hätten beitreten wollen. 1990 gab es sogar einen Entwurf einer „Neuen Verfassung der DDR“, die die DDR reformieren wollte, und der sich durch eine Reihe sozialer Grundrechte vom Grundgesetz unterschied, ein Recht auf „angemessenen Wohnraum“ zum Beispiel und das „Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung“. Es gab Diskussionen über eine gemeinsame Verfassung, doch sie wurden verworfen, so wurde das Grundgesetz vom Provisorium zur Verfassung der Bundesrepublik.
„Wolfgang Schäuble schrieb in seinen Memoiren, die Ostdeutschen hätten in ein anderes Land gewollt. Nein, die Ostdeutschen wollten ein anderes Land, nicht in ein anderes Land“, sagt Göring-Eckardt. Sie habe gemeinsam mit den anderen ostdeutschen Bundestagsvizepräsidentinnen versucht, die Perspektive zu erweitern. „Das Ergebnis ist: Es gibt eine Ausstellung, ein paar Gesprächsformate. Das ist gut, ich will das nicht kleinreden, aber es ist nicht die Augenhöhe, die ich mir gewünscht hätte. Die ostdeutsche Perspektive wird nicht mitgemacht, sondern drangehängt“, sagt sie.
Dabei sei die Geschichte der Friedlichen Revolution und der Diskussion über eine neue Verfassung „großartig“. „Es geht darum, damals wie heute, die Erfahrungen aus der Überwindung der Diktatur anzuerkennen: Ostdeutsche erleben seit 35 Jahren Dauerveränderung. Ostdeutschland in den Neunzigern war eine Mischung aus Deindustrialisierung und verlängerter Ladentheke. Wie ist es eigentlich gelungen, dass viele mit wenig oder keinem Eigenkapital trotzdem Innovation geschafft haben? Daraus kann man doch was ziehen.“
Es wäre, findet Göring-Eckardt, Zeit für eine positive Erzählung der ostdeutschen Geschichte. „Wenn man in Köln sagt, man kommt aus Thüringen, dann gibt es noch immer eine Mischung aus Bedauern und der Frage: Wer bist Du denn eigentlich?“, sagt sie.
Hat das mit den AfD-Wahlergebnissen zu tun, mit den Baseballschlägerjahren der Neunziger, als Neonazi-Banden prügelnd durch die Dörfer zogen? „Die Baseballschlägerjahre spielen in der bundesdeutschen Geschichtsbetrachtung ganz selten eine Rolle“, sagt Göring-Eckardt, „aber auch sie sind überwunden worden. Das ist geschafft worden. Wir sollten aufpassen, dass sie nicht zurückkehren.“