Die Geschichte des 1. Mai und der Kampf um die Zeit
„Warum empfinden wir, dass die Zeit niemals reicht?“ ist der erste Satz des Buches „Alle Zeit“ der Publizistin Teresa Bücker. Es gibt kaum ein Datum, an dem diese Frage passender wäre als am 1. Mai. Einst im frühen Mittelalter als Walpurgisnacht gefeiert, wurde er im 19. Jahrhundert zum Kampftag der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es ging, auch damals, vor allem um Zeit.
Chicago. 1. Mai 1886. Mit seiner Frau Lucy, die schwarz war, führte Albert Parsons an diesem Tag einen Streikmarsch an, dem sich 80.000 Arbeiterinnen und Arbeiter anschlossen. Das Ziel: der Acht-Stunden-Tag. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit, acht Stunden Schlaf. Die Gewerkschaften hatten zum Generalstreik aufgerufen.
In Chicago war der Generalstreik der Beginn der sogenannten Haymarket-Riots, die zur Geburtsstunde des 1. Mai als Tag der Arbeiter wurden. Ohne deutsche Auswanderer, interessanter Nebenaspekt, wäre es so nicht gekommen. Wenige Jahre zuvor, 1878, hatte Reichskanzler Otto von Bismarck das Sozialistengesetz erlassen, vollständig das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“. Sozialistinnen, Anarchisten und Kommunisten waren ausgewandert, viele in die USA. Sehr viele nach Chicago.
August Spies, zu dieser Zeit bereits seit einigen Jahren in Chicago, war Chefredakteur und Herausgeber der örtlichen deutschsprachigen Arbeiter-Zeitung. Am 3. Mai 1886 hielt er vor deutschen und tschechischen Arbeitern eine Rede. Einige Arbeiter zogen von dort zu einer nahen Fabrik und warfen, damals schon eine Mode, Steine auf Polizisten. Die Polizisten schossen, mindestens zwei Arbeiter starben.
An dem Abend wurden Flugblätter gedruckt, „Arbeiter, bewaffnet Euch und erscheint massenhaft! Das Executiv-Comite“, war auf einem zu lesen. Spies fand das falsch, er sagte, er würde nicht sprechen, wenn die Zeile nicht entfernt würde. Neue Flugblätter wurden gedruckt, wenige Hundert Exemplare der originalen Version wurden nicht zerstört. Am nächsten Tag, dem 4. Mai 1886, rief Spies dazu auf, friedlich zu bleiben. Doch gegen 22:30 Uhr am Abend, nahe dem Ende der Kundgebung, stürmten, so beschreibt es der New Yorker, rund 180 Polizisten den Platz. Eine hausgemachte Bombe flog, die Polizisten schossen, am Ende waren sieben Polizisten und vier Arbeiter tot. Spies und Parsons wurden, gemeinsam mit anderen, zum Tode verurteilt und am 11. November 1887 gehängt.
Fast zwei Jahre später, am 14. Juli 1889, hundert Jahre nach dem Sturm auf die Bastille, kamen in Paris etwa 400 Delegierte zum „Internationalen Arbeiterkongress“ zusammen. Ein Who's who der internationalen Sozialistenszene, darunter Eduard Bernstein, Clara Zetkin, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Wieder ging es vor allem um den Acht-Stunden-Tag. Zetkin hielt eine Rede, nach der der Kongress beschloss, Frauen als „gleichberechtigte Mitkämpferinnen“ anzuerkennen. Am 1. Mai, so beschloss der Kongress, sollte international gestreikt werden, um den Acht-Stunden-Tag durchzusetzen – und den Toten vom Haymarket zu gedenken.
Es dauerte noch ein paar Jahre, doch seit 1918 ist der Acht-Stunden-Tag in Deutschland gesetzlich festgeschrieben. Der 1. Mai als Arbeiterkampftag blieb. 1919 wurde er einmalig in der Weimarer Republik als Feiertag begangen, 1933 kaperten ihn die Nationalsozialisten. 1956 begann in Westdeutschland die Kampagne „Samstags gehört Vati mir“, die neun Jahre später in die 40-Stunden-Woche mündete.
Die 40-Stunden-Woche aber ist, anders als der Acht-Stunden-Tag, kein Gesetz. Samstag gilt als Werktag (ungeachtet der Tatsache, dass Vati und Mutti nun samstags den Kindern meist gehören). 48 Stunden ist die wöchentliche Höchstarbeitszeit. Bücker fordert in ihrem Buch die 30-Stunden-Woche, denn Tätigkeiten wie Kinderbetreuung, Haushalt, Pflege seien in die gängige 40-Stunden-Woche nicht einberechnet. Die „Entpolitisierung der Zeit“ kritisiert sie.
Die Zeit ist, gerade jetzt, politisch wie nie. Die FDP plädiert für mehr Arbeitszeit, auch Wirtschaftsminister Robert Habeck, immerhin von den Grünen, deren Jugendorganisation kürzlich eine 20-Stunden-Woche erwog. Vielleicht also genau die richtige Zeit für den 1. Mai.