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Tiefgang

Wie der EU-Beitritt der Ukraine zu finanzieren wäre

Enrico Letta bekam eine Aufgabe und machte eine Mission daraus: Sein für April erwarteter Bericht zur Zukunft des europäischen Binnenmarktes wird sich nicht auf die Forderung beschränken, hie und da ein paar zwischenstaatliche Hürden abzubauen. Er arbeitet an einem Vorschlag zur Finanzierung eines Beitritts der Ukraine zur EU, besprochen werden soll das Ergebnis dann bei einem Europäischen Rat im April.

Seine wichtigste Erkenntnis: „Wir werden nicht einfach sagen können, dass wir erstens grüne und digitale Transformation, dass wir zweitens gemeinsame Verteidigung und drittens die Erweiterung wollen… Wir wollen diese drei Bereiche, wir wissen, dass sie viel kosten – aber wir sagen nicht, woher wir das Geld nehmen sollen“, sagte er. „Das wird nicht gehen.“ Die Sache so anzugehen, „wird überall dem Populismus Vorschub leisten“, sagte Letta.

„Wir machen einen großen Fehler“, sagte Letta. „Die Botschaft zu vermitteln, dass die nächste EU-Erweiterungsrunde viel kosten wird, und dass dies durch die derzeitige Kohäsions- und Agrarpolitik bezahlt werden wird. Diese Botschaft ist gefährlich. Zunächst einmal kann sie nicht wahr sein: Wir müssen neues Geld finden. Zweitens, wenn wir uns auf diese entweder-oder-Logik einlassen, machen wir die Erweiterung sehr unbeliebt.“

Der Sozialdemokrat, heute Präsident des Jacques-Delors-Instituts, spricht an, wovor sich die Politik bislang drückt bis hin zur EU-Kommission, die diese Woche einen Reformplan vorlegte. Zur Frage, die Letta umtreibt, sagte sie aber bloß: „Die Erweiterung wird eine gründliche Bewertung der langfristigen Effekte auf die Nachhaltigkeit der Agrarpolitik in einer EU 30+ erfordern.“ So so.

Gut 30 Prozent des EU-Haushalts gehen an die Landwirtschaft, ein weiteres Drittel soll für eine Annäherung der Lebensverhältnisse in den EU-Ländern sorgen. Mit einem Beitritt der Ukraine müssten beide Budgets enorm erhöht werden, wenn nicht alle anderen radikal weniger bekommen sollen – die Bauernproteste, die gestern wieder den Brüsseler Gipfel begleiteten, finden auch angesichts dieser Szenarien statt.

„Ich werde in meinem Bericht die Staats- und Regierungschefs der EU auffordern, eine Antwort auf diese Frage zu geben“, sagte Letta im Interview. „Andernfalls würde die Erweiterung völlig unpopulär.“

Mario Draghi, der auch gerade an einem Bericht – über die Wettbewerbsfähigkeit der EU – sitzt, „wird in seinem Bericht dasselbe tun“, sagte Letta. Die beiden italienischen Ex-Premiers sind im Austausch zu ihren Ideen. „Ich werde meinen Bericht als ein Instrument ausarbeiten, das Draghi nutzen kann“, sagte Letta – in einer Vorahnung, dass Draghis Werk diesen Sommer mit einem Doppelwumms, wie man in Berlin ja sagt, daherkommen wird, schließlich ist die Überzeugung einigermaßen weit verbreitet, der Mann habe erst Europa, dann Italien gerettet.

Letta ist in den vergangenen Monaten im Auftrag der Regierungschefs durch Europa gereist. Im April wird er ihnen sein Werk präsentieren. Diese Woche war er erneut in Berlin und konferierte mit dem Kanzler, sprach beim BDI, fuhr weiter nach Frankfurt zur Deutschen Börse – ein Teil der Reise, die ihn seit Sommer in 54 Städte führte.

Die Kernidee: eine zweite Auflage des derzeitigen EU-Sonder-Aufbaufonds. „Wir können es mit den derzeitigen Mitteln nicht schaffen. Es ist unmöglich, das ohne neue Ressourcen zu schaffen“, sagte er. „Next Generation EU ist ein fantastischer Erfolg. Zwei Anpassungen für eine zukünftige Investitionsphase schlage ich vor. Erstens: Wenn wir öffentliche Gelder einsetzen, müssen wir immer darüber nachdenken, wie wir sie mit privaten Geldern ergänzen können. Zweitens, grenzüberschreitende Projekte.“

Ohne privates Kapital „glaube ich nicht, dass die Sparsamen dem Europäischen Rat erlauben werden, Entscheidungen über neue öffentliche Gelder zu treffen“, sagte Letta. „Auch bei vielen Besuchen in Deutschland hatte ich das Gefühl, dass es keinen Platz für ein neues Next-Generation-EU-Programm in seiner heutigen Form gibt.“

Die Idee erinnert an eine Investitionsoffensive der EU ab 2015, nach dem damaligen Kommissionspräsidenten Juncker-Plan genannt, der die Idee in das bis dahin brave und vorsichtige Investitionsgebaren der EU einbrachte, Steuergeld mit privaten Investitionen vielfach zu hebeln. Die neue Qualität in Lettas Plan: den Finanzmarkt in der EU endlich zu einem EU-Finanzmarkt zu machen.

„Das ist ein potenzieller Schatz“, sagte er. „Ein kleiner, ineffektiver EU-Finanzmarkt bedeutet, dass viel Geld der EU-Sparer in die USA fließt und über privates Beteiligungskapital amerikanische Unternehmen speist, die nach Europa zurückkehren, um europäische Unternehmen zu kaufen. Genau das ist der Fall.“

Drei Wirtschaftsbereiche wurden zu Beginn des Binnenmarktes ausgeklammert: Telekommunikation, Finanzen und Energie. „Damals wurde beschlossen, sie auf nationaler Ebene zu belassen“, sagte Letta. „Es ist kein Zufall, dass wir in diesen drei Bereichen weniger wettbewerbsfähig sind als die USA. Sie sind zu einem großen Hindernis für das Wachstum geworden.“

Was damals galt, gilt freilich noch immer, und damit sind die Begrenzungen von Lettas Spielraum auch von ihm selbst beschrieben: „Eine Börse, eine Aufsichtsbehörde zu haben oder einen etablierten Telekommunikationsanbieter, ist für manche Länder wichtiger als auf europäischer Ebene wettbewerbsfähig zu sein.“

Kleine Länder sind gern der Meinung, Skalierung verschaffe nur den großen einen Vorteil. Letta versucht es so: „Wenn wir etwas zusammen machen, dann fügen wir viele Eier zu einem Omelett zusammen, und es ist nicht mehr zu erkennen, wer sie mitbrachte. Aber wichtig ist dann die Frage nach der Größe des fertigen Omeletts.“

Warum die EU-Länder, speziell sowohl die kleinen als auch die sparsamen, umdenken sollten? Letta holte sich Rat bei einem Mann, dessen Name in der EU noch klangvoller ist als die Draghis und Junckers zusammen. Als er den Auftrag bekam, „bat ich Jacques Delors sofort um ein Treffen. Er empfing mich in Paris, und er schlug vor: Beginnen Sie die Arbeit mit der Geopolitik.“

Im ungeklärten Verhältnis der EU-Länder zu China, in der Unsicherheit über den künftigen Kurs der USA und in Russlands Krieg auf europäischem Boden sollen die Europäer Kleinstaaterei überwinden, so die Hoffnung. Delors verstarb Ende Dezember. Letta gab er noch den Rat, eine Verbindung zwischen der geopolitischen Lage und dem Überleben der Freiheiten des Binnenmarktes zu schaffen. „Das ist nicht selbstverständlich“, sagte Letta. „Aber genau das versuche ich zu tun.“