Die Weltlage stutzt Freihändlern die Flügel
Die neue weltpolitische Lage räumt in Europa der Sicherheit Vorrang ein. Sie zwingt die Europäische Kommission zu einer neuen Handelspolitik – einer weniger ehrgeizigen: „Es ist klar, dass unser Ansatz, sehr umfassende Handelsabkommen zu schließen, die ein breites Spektrum von Bereichen abdecken und mit der Erwartung ehrgeiziger Verpflichtungen in allen Bereichen einhergehen, nicht mit allen unseren Handelspartnern funktionieren wird“, sagte Valdis Dombrovskis im Interview in München, der zuständige Vizepräsident der Kommission. „Wir werden unseren Ansatz überdenken müssen.“
Früherem Freihandels-Enthusiasmus mischt sich selbst bei Regierenden Skepsis bei – aus Sorge um Umweltschutz- und Sozialstandards bei Handelspartnern, um Bauernproteste daheim gegen eine teilweise Öffnung der Agrarmärkte, die Erwartung, nur mit sehr ähnlichen politischen Systemen ins Geschäft kommen zu wollen und vielleicht nicht mehr so gerne mit China. Die Transparenz von Lieferketten ist der Politik wichtig wie nie.
Ein Beispiel: die derzeit laufenden Verhandlungen mit Indien. „Aus den Gesprächen, die wir mit Indien geführt haben, geht klar hervor, dass wir diese Verhandlungen und Abkommen nicht nach unserem üblichen Schema führen können. Unsere Botschaft an Indien lautet, dass es aus seiner Komfortzone heraustreten und die Verhandlungen nicht nach seiner Schablone führen soll“, sagte Dombrovskis.
Die große Frage: „Wie können wir uns darauf einigen, bestimmte Erwartungen herunterzuschrauben?“ Das ist seine Botschaft „an beide, unsere Handelspartner und Mitgliedstaaten“, sagte er.
Die Weltwirtschaft wächst, wenn auch langsam – aber das heißt: „Ja, der Kuchen kann wachsen“, sagte Dombrovskis, der auch EU-Handelskommissar ist. „Gleichzeitig sehen wir im Hinblick auf den globalen Handel einen Paradigmenwechsel von der Effektivität zur Widerstandsfähigkeit. Es besteht die Gefahr einer globalen wirtschaftlichen Fragmentierung.“
Christoph Heusgen schien der Hang seiner Leute zum Schwarzmalen peinlich: Hinter dem Motto – „lose lose“ – des Berichts zum Zustand der Welt, wie man sie in München sieht, sei ja immerhin ein Fragezeichen, insistierte er bei der Vorstellung des Reports. Er zeichnet das Bild einer Welt, in der Vernetzung abnimmt und ein Nullsummendenken auf dem Vormarsch ist, politisch wie wirtschaftlich.
Für Leute, die an den Welthandel als Mittel der Wohlstandsmehrung glauben, sind das schlechte Nachrichten. Dombrovskis warnt die Europäer eindringlich vor dem Gedanken, für dessen Renaissance in der westlichen Spitzenpolitik Donald Trump steht: Dass, wenn einer gewinnt, jemand anderes verlieren muss.
Nur noch unter Freunden? „Sollte diese Fragmentierung stattfinden, sodass sich der Handel innerhalb der geopolitischen Blöcke konzentriert, würde dies zu einem Verlust der globalen Produktion von fünf bis sieben Prozent der globalen Wirtschaftsleistung führen, wobei sieben Prozent dem kombinierten Anteil Frankreichs und Deutschlands daran entsprächen“, sagte Dombrovskis. „Also ziemlich beträchtlich. Es ist wichtig, dass diese Zersplitterung des Handels nicht tatsächlich eintritt.“ 18 Prozent der Arbeitsplätze in der EU, sagte er, hingen vom Handel ab.
Gerade deswegen: Wer Handel treiben will, muss robuster auftreten als in der Vergangenheit. „Als EU müssen wir in der Lage sein, in einer global konfliktreicheren geopolitischen Situation zu funktionieren, indem wir Risiken angehen wie einseitige Abhängigkeiten und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen“, sagte Dombrovskis. „Wenn wir dies tun, können wir unsere wirtschaftliche Offenheit bewahren.“
Das führt zu Zuständigkeitsfragen und gelegentlichen Reibereien zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten, die nicht alle dieselbe Vorstellung davon haben, wie die Robustheit auszusehen habe: Frankreich sieht seine Bauern schneller bedroht als andere, Deutschland seine Autoindustrie. Wenn etwa eine geplante Übernahme durch einen Investor aus China Fragen nationaler Sicherheit berührt, hat die Kompetenz der EU-Kommission in den Augen der Regierungen rasch ein Ende.
In dem Bereich „sind wir an einem Schnittpunkt mit nationaler Sicherheit und Wirtschaft, da müssen wir vorsichtig vorgehen“, sagte Dombrovskis. „Wir tun dies, aber es ist auch klar, dass ein gemeinsames Vorgehen zu besseren Ergebnissen führt.“
„Alles in allem ist der Appetit (auf Handel) immer noch da“, sagte er. „Die Mitgliedstaaten sehen die Vorteile, die der Handel der EU-Wirtschaft bringt. Wir dürfen nicht vergessen, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 85 bis 90 Prozent des weltweiten Wachstums außerhalb der EU stattfinden werden. Wir müssen also vernetzt sein, wenn wir unser Wachstum und unseren Wohlstand erhalten wollen, und wir müssen daher unser Engagement fortsetzen.“