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Tiefgang

„Auf Gedeih und Verderb auf das Funktionieren der Technik angewiesen“

„Willkommen in der Zeit der Digitalisierung!“, schrieb Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vergangene Woche auf der Plattform X, nachdem zum Jahresbeginn das E-Rezept verbindlich wurde – eines seiner größten Digitalisierungsvorhaben. Bis auf wenige Ausnahmen ist das rosa Papierrezept (Muster 16) damit überholt.

SZ Dossier hat drei Apothekerinnen und Apotheker aus Berlin, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt gebeten, zu dokumentieren, ob der geplante Digitalisierungsschub auch bei ihnen ankam und die Umstellung funktioniert hat: eine Tagebuch-Umfrage.

Dienstag – Verunsicherung bei den Patienten: Der 1. Januar war ein Feiertag, sodass die meisten Apotheken erst am Dienstag die Türen für ihre Kundschaft öffneten. „Wir hatten am Dienstag in allen drei Apotheken ein deutlich erhöhtes Aufkommen, was E-Rezepte anbelangt“, sagte Rouven Steeb, Inhaber von drei Landapotheken in der Nähe von Heilbronn und Vizepräsident des Landesapothekerverbandes Baden-Württemberg. Eine der Apotheken sei schon zuvor „ein bisschen ein Exot“ gewesen, weil eine der ausstellenden Arztpraxen vor Ort bereits vor der Pflicht auf das E-Rezept umgestellt hatte, sagte Steeb.

Patientinnen und Patienten können sich nun nicht mehr gegen ein E-Rezept entscheiden, schließlich sind die Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, ihnen die Rezepte nur noch in elektronischer Form auszustellen. Weil Ausnahmen aber die Regel bestätigen, werden etwa Betäubungsmittel oder medizinische Hilfsmittel wie Kanülen für die Insulintherapie oder Kompressionsstrümpfe weiterhin nur auf Papier ausgestellt.

Laut Bundesgesundheitsministerium sind die Apotheken bereits seit dem 1. September 2022 flächendeckend in der Lage, E-Rezepte einzulösen, allerdings hatten zuletzt viele Ärzte noch keine ausgestellt. „Bei den beiden anderen Apotheken tröpfelte es bisher so, aber am Dienstag hatten wir die halbe Anzahl der Gesamtsumme des kompletten Dezembers“, sagte Steeb. Das bedeute, er habe in einer Apotheke 260 E-Rezepte im ganzen Dezember eingelöst – und am Dienstag allein 130.

Anne-Kathrin Haus erlebte in ihrer Apotheke in Colbitz in Sachsen-Anhalt einen ähnlichen Schub: „Am Dienstag haben wir schon gemerkt, dass es noch einmal einen Umschwung zum Vormonat gab und die Umstellung jetzt auch passiert ist.“ Der Anteil sei von einem Drittel der Rezepte im Dezember auf mehr als die Hälfte am Dienstag gestiegen. Viele der Patientinnen und Patienten seien nach der Umstellung aufs E-Rezept aber zunächst verunsichert gewesen.

„Ich erkläre das den Patienten immer so, dass der Arzt ihr Rezept in eine Wolke geschickt hat, oder Cloud, je nachdem, wie es der Patient versteht, und die Chipkarte mein Schlüssel ist, um an die Wolke zu gelangen“, sagte Haus. „Und wenn ich diesen Schlüssel eingesteckt habe, ist alles da.“

Grundsätzlich gibt es drei Arten, das E-Rezept einzulösen: mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), per App oder als Papierausdruck. „Bei uns sind bisher ausschließlich Kunden mit der Gesundheitskarte gekommen“, sagte Haus. Bei Steeb waren es am Dienstag 95 Prozent Gesundheitskarte, der Rest kam mit dem Ausdruck.

Das E-Rezept soll Versicherten Wege sparen, etwa weil sie für ein Folgerezept nicht mehr in die Arztpraxis gehen müssen. Allerdings nur, wenn sie in einem Quartal bereits in der Arztpraxis waren und ihre Gesundheitskarte schon eingelesen wurde. In den meisten Fällen müssen die Patientinnen und Patienten also weiterhin erst zum Arzt und dann in die Apotheke gehen – zumindest einmal alle drei Monate.

„Wir hatten am Dienstag einige ältere Patienten, die mit dem Rezept in die Apotheke marschiert sind und ihre Medikamente abholen wollten, ohne davor zum Arzt zu gehen“, sagte Rouven Steeb. „Da musste ich dann erklären: Das muss schon noch ein Arzt ausstellen und digital unterschreiben, bevor wir es mit der Karte abrufen können.“

Mittwoch – die E-Rezept-App fällt aus: Mitte der Woche machten Pannen bei der E-Rezept-App Schlagzeilen. Am Dienstag und Mittwoch war die App-Anmeldung mittels der Gesundheit-ID für Versicherte der Krankenkassen IKK, BKK und DAK zeitweise nicht möglich, auch bei AOK-Versicherten mit iOS-Endgeräten hakte es am Mittwoch. In den Apotheken selbst, war davon aber nichts zu spüren: „Von den Problemen mit der App haben wir nichts mitbekommen, weil niemand mit der App kommt“, sagte Rouven Steeb.

Dieselben Erfahrungen machte seine Kollegin Anne-Kathrin Haus in Colbitz ebenso wie Anke Rüdinger, die eine Apotheke in Berlin-Lichtenberg betreibt und Vorsitzende des Berliner Apothekerverbands ist. Was für die Berliner Apothekerin aber spürbar gewesen sei: Mit dem Anstieg der E-Rezepte stiegen auch die Probleme.

Etwa durch falsch eingetragene Berufsbezeichnungen: Da die Ärzte in ihren Praxisverwaltungssystemen händisch ihre Berufsbezeichnung eintragen, käme es häufig zu Fehlern, etwa weil sie statt Facharzt für Allgemeinmedizin oder Chirurgie, nur Allgemeinmedizin oder Chirurgie schrieben. „Das ist formal gesehen kein korrekt ausgestelltes Rezept und viele Apotheken befürchten spätere Retaxationen, wenn sie solche E-Rezepte versorgen“, sagte Rüdinger.

Bei Retaxation verweigern Kassen die Erstattung eines bereits vom Apotheker abgegebenen Arzneimittel. Ein weiteres Problem sei am Mittwoch durch Lieferengpässe aufgetreten: Früher hätten Apothekerinnen und Apotheker bei nicht lieferbaren Kombipräparaten die einzelnen Wirkstoffe einzeln ausgeben können, sagte Rüdinger. „Das ist auf dem Papierrezept ganz einfach zu dokumentieren“, sagte sie. „Jetzt brauchen wir dafür neue Verordnungen.“

„Das sind alles Probleme, die sich jetzt eben doch als zeitaufwendiger herausstellen, je mehr E-Rezepte in die Apotheke kommen“, sagte Rüdinger. Genauso kann das E-Rezept in der Praxis aber auch Zeit ersparen, berichtet Anne-Kathrin Haus über ihre Erfahrungen in Colbitz. „Wir hatten einen Fall, bei dem das Rezept geändert werden musste“, sagte sie. „Das ging mit einem Telefonat mit dem Arzt und war dann schon bei uns.“ Mit dem Papierrezept hätte der Patient noch einmal zum Arzt gemusst, um es gegenzuzeichnen, sagte sie.

Rouven Steeb erlebte am Mittwoch auch Sorgen in Bezug auf den Datenschutz: Ein Kunde habe sich beschwert, dass nun alle seine Daten einsehbar seien. „Tatsächlich sehen wir aber genauso viel wie bisher auch.“ Etwa Name, Anschrift, Geburtsdatum, Krankenversichertennummer und Krankenkasse des Versicherten. „Medikamente, die sie letztes Jahr oder letzte Woche verschrieben bekommen haben, sehen wir alle nicht, sondern immer nur die aktuelle Verordnung“, sagte Steeb.

Erst nach circa drei Stunden war es uns wieder möglich, Kunden mit E-Rezepten zu versorgen

Apotheker Rouven Steeb über Probleme nach einem Stromausfall in seiner Apotheke

Donnerstag – mehr Rezepte, mehr Probleme: „Am Mittwoch war es trubeliger in der Apotheke“, sagte Anne-Kathrin Haus. „Einmal konnten wir das Rezept nicht abrufen und haben dann eine Stunde mit der Praxis hin und her telefoniert, bis das Rezept bei der Patientin angekommen ist“, sagte Haus. „Ob das Problem bei der Praxis lag, dem Gematik-Server oder bei uns, war aber nicht auffindbar.“

Freitag – Wenn die Technik versagt: „In einer Filiale gab es gestern deutlich nach Feierabend einen Stromausfall“, sagte Rouven Steeb. Das habe am Freitag einen Defekt verursacht: „Wir sind unsere Routinen durchgegangen, haben Neustarts und Resets durchgeführt, aber das hat das Problem nicht behoben.“ Es stellte sich heraus, dass der Stromausfall eine Überspannung an einem Kartengerät in der Apotheke verursacht hatte. „Wenn das Internet ausfällt, sind wir machtlos. Dann muss ich den Patienten tatsächlich in die Praxis zurückschicken, damit sie ein Papierrezept ausstellen“, sagte Steeb. Aus kaufmännischer Sicht der Worst Case.

„Vor Ort haben wir die für uns glückliche Situation, dass wir die einzige Apotheke im Ort sind und die Ärzte darum gebeten, uns für den heutigen Vormittag Papierrezepte auszustellen“, sagte er. „Erst nach circa drei Stunden war es uns wieder möglich, Kunden mit E-Rezepten zu versorgen“, sagte Steeb.

Gemischtes Fazit: Wenn alles reibungslos laufe, sei die Bearbeitung des E-Rezept „deutlich schneller und einfacher“ als mit dem Papierrezept, resümierte Anne-Kathrin Haus die erste Woche seit der verbindlichen Einführung. „Dadurch haben wir auch mehr Zeit für die Beratung der Patienten.“ Wenn jedoch ein Problem auftauche, benötige es derzeit „noch deutlich mehr Zeit als mit dem Papierrezept“. Das liege etwa daran, dass sich die Prozesse in den Praxen und Apotheken noch einspielen müssten.

Wie auch Rouven Steeb beunruhige sie vor allem mögliche Technikausfällen: „Sorgen bereitet mir, dass wir in den Apotheken derzeit noch auf Gedeih und Verderb auf das Funktionieren der Technik angewiesen sind.“ Es müsste eine Möglichkeit geschaffen werden, um in Notfällen auch bei Technikausfällen weiterhin die Versorgung sicherzustellen. Auch fordere er eine einfache, klare, genaue und aktuelle Informationsweitergabe von einer zentralen Stelle an Arztpraxen und Apotheken. So habe er nicht das Gefühl, dass die offizielle Seite der Gematik „fachlich genau“ sei und jede dort auffindbare Information noch Aktualität besitze. „Und man sich darauf 100 Prozent verlassen kann.“

Anke Rüdinger in Berlin habe „ein bisschen Bammel vor den kommenden Tagen, wenn mehr Praxen wieder offen haben“. Bisher müssten die Mitarbeitenden in den Apotheken noch „extrem viel erklären“, das koste Zeit.

Damit die Arzneimittelversorgung weiter funktioniere, müssten Apotheken und Arztpraxen in der kommenden Zeit sehr viel miteinander kommunizieren, sagte sie. „Das ist wirklich eine schwierige Situation, aber da müssen wir jetzt alle durch.“

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