Umgehen mit Orbán
Die „Erpressungsversuche“ des ungarischen Premierministers Viktor Orbán dürften keinen Erfolg mehr haben, sagte die Sozialdemokratin Katarina Barley und kritisierte heftig die EU-Kommission unter der Christdemokraten Ursula von der Leyen dafür, genau diesen Eindruck zu erwecken.
„Ich kann nicht nachvollziehen, warum die EU-Kommission Nachgiebigkeit signalisiert“, sagte sie. „Wenn es stimmt, dass sie in nun 10 Milliarden Euro freigeben will – da fehlen mir die Worte.“ Eine Tranche bislang zurückgehaltener Gelder könnte sehr bald ausgereicht werden; rechtlich begründet mit Reformfortschritten und politisch eng verbunden mit Orbáns Vetodrohung vor dem EU-Gipfel.
Zuerst zum Rechtlichen: „Zu glauben, dass Orbán wirksame Antikorruptionsmechanismen aufbaut, ist doch absurd”, sagte Barley.
Dann zum politischen Kalkül: „Orbán wird seinen Ukraine-Kurs nicht grundlegend ändern, auch wenn man ihm das Geld gibt“, sagte Barley. „Ich glaube, man kann sich mit dem Geld Zeit kaufen, die Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen.“ Dass aber sich Orbán nicht beeindruckt zeigte und mitteilte, eine Auszahlung der Tranche habe keinen Einfluss auf seine Haltung zur Ukraine: „Also das ist ein Bluff“, sagte Barley.
Dem EU-Gipfel droht ein spektakuläres Scheitern, und zwar mit Ansage. Orbán ist hartleibig und kündigte an, er werde der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine nicht zustimmen. Wenn auf einem EU-Gipfel offiziell etwas beschlossen werden soll, ist Einstimmigkeit erforderlich.
Es wäre in den Augen einer großen Mehrheit der Länder eine herbe Enttäuschung mehrerer selbst gesteckter Ziele der EU: als Spieler auf der Weltbühne wahr- und ernstgenommen zu werden; die Ukraine nicht nur militärisch, sondern politisch zu unterstützen; und in dieser entscheidenden Frage Russland keinen Grund zum Zweifel an der Einigkeit Europas zu geben.
In anderen Worten: Ohne den Ukraine-Beschluss würde nicht etwa das Gipfel-Management ein bisschen ruckeln, es würde die europäische Außenpolitik entgleisen. Daher zahlreiche Versuche, Orbán umzustimmen – von Lockungen der Kommission über Emmanuel Macrons Einladung zum gemeinsamen Abendessen nach Paris gestern Abend; nach Auskunft aus dem Élysée dazu gedacht, dem Gast seine Isolation in der EU vor Augen zu führen. Es hat halt ein jeder seine eigenen Wege, dies zu tun.
Orbán hat, wie oft, ein großes Fass mit Stolz und Sturheit gefüllt, auf dessen Boden ein valides Argument liegt: dass im Fall der Ukraine nicht gelten solle, was den Westbalkanstaaten seit Jahrzehnten gepredigt wird, dass sie mit überzeugenden Reformanstrengungen in Vorleistung gehen müssten, um EU-Mitglieder werden zu können. Das erkennt auch Barley an. „Faktisch ist es natürlich so, und es wurde auch offen gesagt, dass der Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien eine strategische Entscheidung ist“, sagte sie. „Das kann man richtig finden oder falsch.“
Dass die Ukraine die anderen überhole, „würde ich nicht so formulieren“, es gehe ja bislang nur darum, Kandidatenstatus zu gewähren. „Über den Beitritt zur Europäischen Union müssen wir wirklich diskutieren: Für die Ukraine müssen die Kopenhagener Kriterien gelten, wie für alle anderen auch“, sagte sie.
Die Ukraine ist ein riesiges Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern und einem Agrarsektor, der allein durch seine Größe den EU-Haushalt (unreformiert) radikal verändern würde. „Wenn so ein großes Land am Ende in demokratischer, rechtsstaatlicher Hinsicht unsere Kriterien nicht erfüllt, dann kann das vieles durcheinander und auch auseinanderbringen“, sagte Barley. „Auf jeden Fall sollte eine Aufnahme nur gemeinsam mit den Westbalkanstaaten erfolgen.“
Barley widerspricht der Beobachtung entschieden, dass Ungarn und Polen die beiden Themen ihrer Legislaturperiode waren (Polen kommt ihr in dieser Hinsicht wohl bald abhanden). Dass Rechtsstaatlichkeit ihr großes Anliegen ist, lässt sie gelten. „Mich besorgt die Entwicklung in Ungarn sehr. Was die Rechtsstaatlichkeit im Land selbst betrifft, kann es fast nicht mehr schlimmer werden“, sagte sie. „Ungarn ist keine Demokratie mehr.“
Mit Folgen. „Das wirkt sich aus auf die Europäische Union selbst: Es wird immer schlimmer, weil Orbán immer ungenierter agiert“ – selbst ohne die polnischen Verbündeten. „Die Erpressungsversuche folgen jetzt noch unverblümter und auch schneller aufeinander“, sagte Barley.
Was also tun? „Was für eine Message senden wir denn, wenn wir nichts tun gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn? Dann ist die EU in den Händen eines Autokraten“, sagte sie. „Das geht nicht, auch weil die anderen sehr genau darauf schauen.“ Das Geld sieht Barley als das zentrale Druckmittel, auch vorbeugend.
Die italienische Ministerpräsidentin zum Beispiel: „Dass Giorgia Meloni sich so kooperativ in Europa verhält, hat auch damit zu tun, dass Italien es sich nun wirklich nicht leisten kann, auf europäische Gelder zu verzichten“, sagte Barley. Auch Geert Wilders, der rechte Wahlsieger in den Niederlanden, solle die Botschaft empfangen, wünscht sie sich: „Fangt nicht an, die europäischen Werte über Bord zu werfen, sonst hat das Konsequenzen.“
Die vermaledeite Einstimmigkeit und damit das Erpressungspotential endlich loszuwerden, ist ein anderer Vorschlag, unter anderem des Bundeskanzlers, dem Barley zustimmt. Kleinen Ländern liegt an der Einstimmigkeit schon aus Prinzip und Selbstschutz viel.
Ob das also den Kampf lohnt? Selbst ein lang und zutiefst überzeugter Befürworter einer weiteren Integration der EU war im Zwiegespräch diese Woche skeptisch, ob die EU, ob mit 27 oder perspektivisch bis zu 35 Mitgliedern, als Ganzes noch reformfähig ist – oder ob die Eurozone nicht zwangsläufig die eigentliche EU werden müsse, die heutige EU sich um den Binnenmarkt gruppieren und die Erweiterung mit Zugang dazu, aber nicht mit Mitsprache beginnen könne.
Barley will derlei vorerst nicht hören und setzt auf Vertiefung. „Wir haben noch nicht mal einen Verteidigungskommissar, das Europäische Parlament hat keinen Verteidigungsausschuss. Das sind Punkte, die wir ändern sollten“, sagte sie. „Wir müssen Europa dafür fit machen, geopolitisch eine wichtigere Rolle zu spielen.“
Wird es in ihrem Europawahlkampf eine Hauptrolle spielen? Na ja, mal schauen, was noch passiert: „Im Moment ändert sich die Lage ja quasi wöchentlich“, sagte sie. „Der Europawahlkampf ist traditionell kurz, von daher nehmen wir uns die Zeit.“