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Tiefgang

Brüssel zittert vor den Folgen des Karlsruher Urteils

Kurz vor einer turnusgemäßen Überprüfung des europäischen Haushaltsrahmens fehlen Deutschland, dem größten Beitragszahler, nahezu unwiederbringlich 60 Milliarden Euro im eigenen Budget — größer könnte der Alarm nicht sein in Brüssel. Diplomaten berichten SZ Dossier von Signalen aus Berlin, bei der anstehenden Review der mittelfristigen EU-Finanzplanung sei nun vieles offen, wenn nicht alles.

Prioritäten neu zu setzen ist aber schwierig im europäischen Rahmen — der Großteil der Ausgaben wird nur einmal alle sieben Jahre verhandelt und beschlossen, bis 2027 läuft die derzeitige Haushaltsperiode. Aber zur Mitte hin ist eine Überprüfung und damit Umschichtung einiger Mittel vorgesehen, die beim EU-Gipfel im Dezember nun passieren soll. Wünsche sind da, sie sind groß, und Deutschland soll helfen, sie durchzusetzen.

„Wir müssen unsere Unterstützung für die Ukraine verdeutlichen“, sagte uns EU-Ratspräsident Charles Michel im Gespräch in kleiner Runde, abseits der Bühne des SZ-Wirtschaftsgipfels diese Woche in Berlin. Schon vor dem Urteil aus Karlsruhe — das er gestern auf Anfrage nicht eigens kommentieren wollte — schaute er sorgenvoll darauf, was bis zu einiger Einigung zu tun bleibt, für ihn selbst vor allem: „Der Vorschlag sieht für die kommenden Jahre eine Allokation von 50 Milliarden Euro für die Ukraine vor — und es ist kein Geheimnis, dass es rund um den Tisch manche Empfindlichkeiten gibt“, sagte Michel.

Ungarn meint er und die dortige Verweigerung größerer Anstrengungen zugunsten der Ukraine. Michel, ein Belgier aus dem liberalen Lager, zählt auf Bundeskanzler Scholz, sagte er SZ Dossier: „Was die Rolle Deutschlands bei der Entscheidungsfindung in der EU betrifft — die ist sehr wichtig.“ Er arbeite eng mit dem Kanzler und seinem Team zusammen, „in allen Fragen.“

In einigen aber noch mehr: „Die Ukraine ist ein gutes Beispiel. Deutsche Positionen sind extrem hilfreich, um täglich wieder europäische Einheit zu demonstrieren“, sagte er. Der Grad der Einheit der EU drückt sich in politischen Statements aus, in Sanktionen gegen den Aggressor Russland — das 12. Paket ist derzeit in Arbeit — und eben in finanzieller Unterstützung. Deutsche Überlegungen zur Aufstockung der nationalen Militärhilfe für die Ukraine lobte Michel. Andere würden hoffentlich folgen, sagte er.

Eine „geopolitische“ Union wollen sowohl Michel als auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen; aber in der Ukraine und bei ihrer Unterstützung mit militärischem Material erweist sich ein weiteres Mal, wie wenig Europa es sich leisten kann, die Präsidentschaftswahl in den USA im nächsten Jahr unvoreingenommen zu betrachten.

Ohne Amerika würde es eng. Oder, Herr Präsident? „Da möchte ich eine ausgewogene Bewertung vornehmen“, gab mir Michel zur Antwort. „Was wir für die Ukraine tun, ist wirklich außergewöhnlich — und was Sie beschrieben haben, funktioniert in beiden Richtungen: Ich bin mir nicht sicher, ob die USA ohne die EU in der Lage gewesen wären, ein solches Maß an Unterstützung zu leisten.“ Bislang habe man sich jedenfalls nichts vorzuwerfen, sagte er, im Gegenteil. „Und neueste Zahlen zeigen, dass die EU der Ukraine mehr Unterstützung gewährt hat als die USA, nämlich mehr als 82 Milliarden Euro.“

Die Europäische Union hat große Pläne für die zweite Hälfte ihres Langfrist-Haushaltsrahmens: Neben der soliden Finanzierung der Ukraine hat Eindämmung ungewollter Migration neuerdings Priorität bei fast allen EU-Staaten. Der Kampf gegen den Klimawandel wird auch in Brüssel nicht nur über Regulierung, sondern auch mit Geld geführt, dasselbe gilt für die Sorge um Europas Wettbewerbsfähigkeit.

In Zeiten schwieriger Haushaltslagen gilt aber bei den EU-Staaten regelmäßig: Nationale Sorgen aus Ausgabenprioritäten kommen zuerst, Mittel für Europa sind dann eher nachrangig, das ist auch und gerade bei den größten Beitragszahlern so. Ein Grund für Michel zu versuchen, eine weitere Debatte neu zu entfachen: Es gehe nicht nur um eine Neuausrichtung der Ausgaben, sagte er, „sondern auch um [neue] Eigenmittel“ der EU — sie versprächen mehr Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Abschwüngen, mächtigen Verfassungsgerichten und nationalen Regierungen. Und das ist genau der Grund, warum Regierungen die Idee nicht mögen.

Dürfte es denn noch mehr Unterstützung aus Berlin sein? „Ich werde es nicht über Sie machen, wenn ich mit Regierungschefs kommunizieren will“, sagte Michel.

Ein Lob fiel ihm aber noch ein: „Ich bin mehr als zufrieden und es ist äußerst wichtig, dass Bundeskanzler Scholz persönlich so aktiv in den Beziehungen mit dem Globalen Süden ist“, sagte er. Das „eine persönliche Führungsleistung“ des Kanzlers — eine, die aber womöglich von Scholz’ Kollegen in Europa gar nicht gesehen oder wertgeschätzt wird: „Ich habe das Gefühl, dass wir auf EU-Seite die Bedeutung dieses Teils der Welt unterschätzen“, sagte Michel.