Der Weg übers Geld ist der Ampel jetzt versperrt
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 17. November 2023
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf: Brüssel zittert vor Karlsruher Urteil +++ Documenta hat fertig +++ Social Media als geopolitische Waffe +++ Fallstricke deutsch-italienischer Freundschaft +++ Osama bin Laden wird TikTok-Held


Guten Morgen! Heute ist einer jener wiederkehrenden Tage, an dem Berlinerinnen und Berliner Wolfgang Schäuble verfluchen. Hätte er mal nicht diese eine Rede gehalten, folgender Zirkus fände heute in Bonn statt. Seit 6 Uhr und bis Mitternacht sind Sperrzonen in Mitte eingerichtet: Südlich der Spree vom Bundestag über die John-Foster-Dulles-Allee bis zum Großen Stern, dann hoch über Schloss Bellevue zur Lüneburger Straße. 

Dort darf man nichts abstellen, nicht mal ein Rad. Zum Hauptbahnhof — endlich Freitag! — dann auch besser von Norden her. Weiträumig um die türkische Botschaft in der Tiergartenstraße herum, vom Potsdamer Platz ab, ist auch gesperrt: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist zu Besuch, und er bekommt das Sicherheitsprotokoll, das sonst nur US-Präsidenten und israelischen Premierministern zusteht. Er hat es sich hart erarbeitet.

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Willkommen beim Platz der Republik, dem Briefing, das die Hauptstadt verdient. Schön, dass Sie dabei sind. Mein Name ist Florian Eder und ich leite Süddeutsche Zeitung Dossier, das neue Familienmitglied Ihrer sicher liebsten Zeitung. Ich habe diese Woche nun schon gelegentlich gesagt, wer wir sind und was wir wollen. Meinen Kollegen Gabriel Rinaldi stelle ich Ihnen hiermit auch vor, er arbeitet mit mir an diesem Newsletter. Zunächst erscheinen wir jeden Freitag, bald öfter, mit wachsendem Team.

Ich lade Sie ein, uns nun zu lesen: „Show, don’t tell“ ist ein probater Grundsatz in Führungsverantwortung, in der Beurteilung von Politik — und ich stelle mich ihm auch, was meinen Blick auf kommende Woche in der Politik angeht. Sagen Sie es bitte weiter, wenn Ihnen dieser neue Newsletter gefällt. Dafür kostenlos registrieren können Sie sich hier. Und schreiben Sie mir mit Kritik, Rückmeldungen und exklusiven Hinweisen, die den Platz der Republik noch besser machen.

Was wichtig wird

1.

Neue Nüchternheit

Hier ist die eigentliche Frage, die die kommenden Wochen prägen wird: Wie kann sich die Koalition sich aus einer grundlegenden Misere befreien? Den Weg übers Geld für alle großen und kleinen Herzensprojekte, den sie bisher ging, um ihre tiefen Konflikte zu befrieden, hat ihr das Bundesverfassungsgericht weitgehend versperrt.

Feuer auf dem Dach: Die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses war in früheren Jahren, zu anderen Zeiten, eine der wenigen Gelegenheiten für Menschen in politischer Verantwortung, nach Art junger Berater mit Allnightern anzugeben. Gestern zog die Union ihre Änderungsanträge zurück, verweigerte sich: einerseits der konstruktiven Mitarbeit an einem Haushalt, den sie gerade per Klage zu Fall gebracht hatte, andererseits dem Versuch der Regierungsfraktionen, Normalität zu simulieren. Es ging dann vergleichsweise rasch, hat aber den Geruch der gesetzgeberischen und politischen Vorläufigkeit. Mehr zu einigen Details und zu Nebenwirkungen weiter unten.

Ideen aus dem Kanzleramt: Nach dem Urteil vom Mittwoch fehlen 60 Milliarden Euro im Haushalt für die nächsten Jahre, und 60 Milliarden Euro sind nirgendwo so einfach aufzutreiben. Bundeskanzler Olaf Scholz gab die Linie vor, nun Ruhe zu bewahren und sich bis zum Jahresende etwas zu überlegen, also nicht über Nacht. Das mag damit zu tun haben, dass nicht einmal im Kanzleramt ein fertiger Plan B in der Schublade liegt, sondern bisher nur Ideen gewälzt werden — inklusive der, wie Koalitionäre SZ Dossier sagten, so neu dann gar nicht zu denken und stattdessen ein neues „Sondervermögen für Transformation“ besser zu verankern, halt im Grundgesetz selbst.

Berliner Wimmelbild: Aber dafür wäre eine verfassungsändernde Mehrheit nötig, also auch die Union, während ja schon die FDP — Teil der Ampel, als wir zuletzt nachsahen — sich seit dem Urteil und auch gestern im Bundestag äußerte, als hätte sie selbst erfolgreich gegen den Haushalt ihres Parteivorsitzenden, des Bundesfinanzministers, geklagt.

Mehr zu lesen: Wer nun was fordert, ausschließt und dabei welche Prioritäten setzt, haben die Kollegen vom SZ-Parlamentsbüro hier zusammengesetzt zu einem schönen, bunten Wimmelbild der Lage. In unserem Dossier Digitalwende finden Sie heute die wichtigsten digitalpolitischen Mittelrochaden, die in der Nacht noch über die Bühne gingen. 

Elegant geht anders: Der Haushalt 2024 jedenfalls soll trotz der erheblichen Wirkung des Urteils dennoch in der vorgesehenen Sitzungswoche beschlossen werden, also in zwei Wochen. Das macht einen Nachtragshaushalt im nächsten Jahr nahezu unausweichlich, wie Parlamentarier aus Regierungs- und Oppositionsparteien sagten. Das jetzt schon zu wissen und es dennoch so anzulegen, ist nicht besonders elegant; darum aber geht es der Ampel gerade am wenigsten.

2.

Documenta hat fertig

Die Documenta war einmal eine relevante Weltkunstschau und noch lange danach pflegte sie den Anspruch, eine zu sein. Am späten Donnerstagabend teilte sie mit, dass nun ihre gesamte Findungskommission für die nächste Ausstellung im Jahr 2027 zurückgetreten ist: Die Weltpolitik hat wieder einmal nach Kassel gefunden.

Print wirkt: Ausgelöst wurden die Rücktritte durch einen SZ-Bericht über einen Aufruf der Bewegung BDS („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“), den der indische Dichter, Kurator und Kritiker Ranjit Hoskoté 2019 unterzeichnet hatte. Die Documenta-Geschäftsführung hatte sich nicht zu einer eigenen entsprechenden Suche im Internet aufraffen können, wusste daher nach eigenen Angaben nichts davon — verurteilte ihn aber als „eindeutig antisemitisch“, nachdem sie die Zeitung gelesen hatte. Alles Weitere hier von Jörg Häntzschel.

3.

Social Media als geopolitische Waffe

In der Debatte um kritische Rohstoffe könnte die öffentliche Meinung gezielt durch soziale Netzwerke manipuliert werden. Das geht aus einer neuen Studie der Denkfabrik „Centrum für Europäische Politik“ (Cep) hervor, die SZ Dossier vorliegt und am Dienstag veröffentlicht wird. Dass es gängige Praxis einiger Autokratien ist, sich in anderer Länder demokratische Wahlkämpfe unlauter einzumischen, ist bekannt. Die Studie legt nahe, dass Desinformationskampagnen auch als Mittel der Handels-Kriegsführung genutzt werden.

Negative Einstellungen: Die Diskussion um kritische Metalle auf Twitter (jaja, X) sei stark von Nachhaltigkeitsbedenken und Versorgungsrisiken dominiert. Die Analyse zeigt eine überwiegend negative Einstellung zum Lithiumabbau, hauptsächlich hinsichtlich der Umweltauswirkungen. Sie identifizierte Nachhaltigkeitsbedenken als Eintrittstür für Fehlinformationskampagnen, die darauf abzielen, „das Misstrauen der Öffentlichkeit auszunutzen, um den Westen an der Diversifizierung seiner Lieferwege zu hindern.“ Die Cep-Wissenschaftler Anselm Küsters und André Wolf haben insgesamt rund vier Millionen Tweets untersucht, die zwischen 2012 und 2022 verfasst wurden.

Die Rolle Chinas: „Europa will strategisch unabhängiger werden. Gezielte Falschinformationen und Unwahrheiten im digitalen Raum bedrohen die geplante Rohstoffstrategie der Europäischen Union. Soziale Medien bieten ein ideales Einfallstor für Manipulation“, sagte Wolf SZ Dossier. Er glaubt, dass bisher den Markt beherrschende Staaten wie China gezielt die Unabhängigkeitsbemühungen Europas unterlaufen wollen. In der Tat ist das kein unrealistisches Szenario: Chinesische Akteure greifen laut US-Verteidigungsministerium bereits heute zu Desinformationskampagnen. So soll die Peking nahestehende Hackergruppe Dragonbridge Stimmung gegen ein amerikanisches Unternehmen in dem Bereich gemacht haben.

Deepdive zu Lithium: In der Studie haben sich die Wissenschaftler konkret mit Lithium beschäftigt, dem auf Twitter beliebtesten kritischen Metall. Wenn es um Lithium-Tweets zur EU geht, ist „in den meisten dieser Tweets eine klare antieuropäische Stimmung zu erkennen, die in der Regel nicht von anderen Nutzern oder offiziellen EU-Konten gekontert werden.“ Was das konkret heißt?

Doppelstandards der EU? In einem besonders oft gelikten Beispiel zielt ein Nutzer direkt auf die Glaubwürdigkeit der EU-Nachhaltigkeitsziele ab — und wirft der EU vor, mit zweierlei Maß zu messen. Ein weiterer Tweet verweist auf Lithiumreserven in Deutschland. Dass sie bisher nicht abgebaut wurden, wird so interpretiert, dass Deutschland die starken negativen Umweltauswirkungen des Lithiumabbaus erkennt — und sie im eigenen Land vermeiden will. 

Ein leichtes Ziel: Laut der Studie könnte ein — angebliches oder reales — Glaubwürdigkeitsproblem in Nachhaltigkeitsfragen Ziel künftiger Desinformationskampagnen sein. Wie die Wissenschaftler schreiben, könne nur eine transparente Überwachung der Umweltauswirkungen helfen. „Andernfalls wird der Vorwurf, die EU würde mit zweierlei Maß messen, in Zukunft ein leichtes Ziel für antieuropäische Kampagnen sein.“

4.

Fallstricke der deutsch-italienischen Freundschaft

Giorgia Meloni wird nächste Woche samt Ministern zu Regierungskonsultationen in Deutschland erwartet. Eine Übung, bei der sich zeigen könnte, wie viel Nacharbeit der Bundeskanzler seinem Führungsanspruch in Europa gewidmet hat, seit er ihn in einer großen Rede in Prag im Sommer 2022 deutlich aussprach. 

🤌 Hat er und hat seine Regierung genügend Zeit investiert und zugehört, was Italien braucht? Das Land ist ein großer Wirtschaftspartner, sperriger politischer Freund und eine selbstbewusste, wenn auch leicht beleidigte Nation. Dass es in der Außen- und Sicherheitspolitik, in strategischen geopolitischen Fragen wie dem Verhältnis zu China und zentralen Fragen zur Zukunft der EU deutsche Vorschläge akzeptiert, ist kein Selbstläufer.

Ganz schlecht ist die Lage nicht: Vertreter beider Seiten zählten viele und zentrale gemeinsame Interessen auf und ein konkreter Streitpunkt wurde zuletzt in Brüssel abgeräumt, der Umgang mit Seenotrettern auf dem Mittelmeer — sodass, zum ersten Mal seit Langem, die europäische Migrationspolitik nicht der Elefant im Raum ist und auch nicht das „aber“ nach jedem zwischen Deutschland und Italien geeinten Punkt.

Ein Problem bleibt, ein politisches, kulturelles, und ästhetisches: Es sprechen viel zu wenige Menschen in der Ministerialverwaltung Italienisch, nicht einmal im Auswärtigen Amt, wie jemand zugibt, der’s kann. Damit steigt auch die Gefahr für einen der schlimmsten denkbaren Zwischenfälle — dass jemand im Beisein von Vertretern Italiens nach dem Essen einen Cappuccino bestellt.

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Tiefgang

Brüssel zittert vor den Folgen des Karlsruher Urteils

Kurz vor einer turnusgemäßen Überprüfung des europäischen Haushaltsrahmens fehlen Deutschland, dem größten Beitragszahler, nahezu unwiederbringlich 60 Milliarden Euro im eigenen Budget — größer könnte der Alarm nicht sein in Brüssel. Diplomaten berichten SZ Dossier von Signalen aus Berlin, bei der anstehenden Review der mittelfristigen EU-Finanzplanung sei nun vieles offen, wenn nicht alles.

Prioritäten neu zu setzen ist aber schwierig im europäischen Rahmen — der Großteil der Ausgaben wird nur einmal alle sieben Jahre verhandelt und beschlossen, bis 2027 läuft die derzeitige Haushaltsperiode. Aber zur Mitte hin ist eine Überprüfung und damit Umschichtung einiger Mittel vorgesehen, die beim EU-Gipfel im Dezember nun passieren soll. Wünsche sind da, sie sind groß, und Deutschland soll helfen, sie durchzusetzen.

„Wir müssen unsere Unterstützung für die Ukraine verdeutlichen“, sagte uns EU-Ratspräsident Charles Michel im Gespräch in kleiner Runde, abseits der Bühne des SZ-Wirtschaftsgipfels diese Woche in Berlin. Schon vor dem Urteil aus Karlsruhe — das er gestern auf Anfrage nicht eigens kommentieren wollte — schaute er sorgenvoll darauf, was bis zu einiger Einigung zu tun bleibt, für ihn selbst vor allem: „Der Vorschlag sieht für die kommenden Jahre eine Allokation von 50 Milliarden Euro für die Ukraine vor — und es ist kein Geheimnis, dass es rund um den Tisch manche Empfindlichkeiten gibt“, sagte Michel.

Ungarn meint er und die dortige Verweigerung größerer Anstrengungen zugunsten der Ukraine. Michel, ein Belgier aus dem liberalen Lager, zählt auf Bundeskanzler Scholz, sagte er SZ Dossier: „Was die Rolle Deutschlands bei der Entscheidungsfindung in der EU betrifft — die ist sehr wichtig.“ Er arbeite eng mit dem Kanzler und seinem Team zusammen, „in allen Fragen.“

In einigen aber noch mehr: „Die Ukraine ist ein gutes Beispiel. Deutsche Positionen sind extrem hilfreich, um täglich wieder europäische Einheit zu demonstrieren“, sagte er. Der Grad der Einheit der EU drückt sich in politischen Statements aus, in Sanktionen gegen den Aggressor Russland — das 12. Paket ist derzeit in Arbeit — und eben in finanzieller Unterstützung. Deutsche Überlegungen zur Aufstockung der nationalen Militärhilfe für die Ukraine lobte Michel. Andere würden hoffentlich folgen, sagte er.

Eine „geopolitische“ Union wollen sowohl Michel als auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen; aber in der Ukraine und bei ihrer Unterstützung mit militärischem Material erweist sich ein weiteres Mal, wie wenig Europa es sich leisten kann, die Präsidentschaftswahl in den USA im nächsten Jahr unvoreingenommen zu betrachten.

Ohne Amerika würde es eng. Oder, Herr Präsident? „Da möchte ich eine ausgewogene Bewertung vornehmen“, gab mir Michel zur Antwort. „Was wir für die Ukraine tun, ist wirklich außergewöhnlich — und was Sie beschrieben haben, funktioniert in beiden Richtungen: Ich bin mir nicht sicher, ob die USA ohne die EU in der Lage gewesen wären, ein solches Maß an Unterstützung zu leisten.“ Bislang habe man sich jedenfalls nichts vorzuwerfen, sagte er, im Gegenteil. „Und neueste Zahlen zeigen, dass die EU der Ukraine mehr Unterstützung gewährt hat als die USA, nämlich mehr als 82 Milliarden Euro.“

Die Europäische Union hat große Pläne für die zweite Hälfte ihres Langfrist-Haushaltsrahmens: Neben der soliden Finanzierung der Ukraine hat Eindämmung ungewollter Migration neuerdings Priorität bei fast allen EU-Staaten. Der Kampf gegen den Klimawandel wird auch in Brüssel nicht nur über Regulierung, sondern auch mit Geld geführt, dasselbe gilt für die Sorge um Europas Wettbewerbsfähigkeit.

In Zeiten schwieriger Haushaltslagen gilt aber bei den EU-Staaten regelmäßig: Nationale Sorgen aus Ausgabenprioritäten kommen zuerst, Mittel für Europa sind dann eher nachrangig, das ist auch und gerade bei den größten Beitragszahlern so. Ein Grund für Michel zu versuchen, eine weitere Debatte neu zu entfachen: Es gehe nicht nur um eine Neuausrichtung der Ausgaben, sagte er, „sondern auch um [neue] Eigenmittel“ der EU — sie versprächen mehr Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Abschwüngen, mächtigen Verfassungsgerichten und nationalen Regierungen. Und das ist genau der Grund, warum Regierungen die Idee nicht mögen.

Dürfte es denn noch mehr Unterstützung aus Berlin sein? „Ich werde es nicht über Sie machen, wenn ich mit Regierungschefs kommunizieren will“, sagte Michel.

Ein Lob fiel ihm aber noch ein: „Ich bin mehr als zufrieden und es ist äußerst wichtig, dass Bundeskanzler Scholz persönlich so aktiv in den Beziehungen mit dem Globalen Süden ist“, sagte er. Das „eine persönliche Führungsleistung“ des Kanzlers — eine, die aber womöglich von Scholz’ Kollegen in Europa gar nicht gesehen oder wertgeschätzt wird: „Ich habe das Gefühl, dass wir auf EU-Seite die Bedeutung dieses Teils der Welt unterschätzen“, sagte Michel.

Fast übersehen

1.

Wer geht, wer bleibt? Zum 6. Dezember wird sich die Linksfraktion im Bundestag liquidieren. Dass es schlimmer immer ginge, zeigt diese Woche auch: In Griechenland war der old-school-linke Flügel der Linkspartei nicht der Teil, der blieb, sondern der, der gehen musste. Syriza war dort sogar in nationaler Führungsverantwortung gewesen, und ein Personalproblem hat sie nicht erst, seit ein ehemaliger Finanzminister, der längst auch nicht mehr Syriza-Mitglied ist, das Land zwar nur fast, das aber aus ganz eigener Kraft aus dem Euro befördert hätte.

Verrat an linken Zielen: Die Syriza verlor führende Mitglieder mit einem Hintergrund in Regierungsverantwortung wie Panis Skourletis, Nikos Voutsis, Andreas Xanthos und Theodoros Dritsas. Sie beschuldigten den neuen, gerade gewählten Parteivorsitzenden (Stefanos Kasselakis, wenn wir uns den Namen merken wollen) rechtspopulistischer Umtriebe und des Verrats an linken Zielen und Ideen.

Relevante Spaltung: Für den Co-Parteivorsitzenden der Linken, Martin Schirdewan, hat die Spaltung besondere Bedeutung: Die nächste Wahl in Griechenland ist die zum Europäischen Parlament, und der Linksfraktion, der er vorsitzt, droht ein stabiler griechischer Pfeiler zu zerbröseln. Während sich die Bundestagsfraktion auflöst, präsentiert die Partei übrigens bei ihrem Europaparteitag in Augsburg ein neues Logo, wie Angelika Slavik hier in der SZ berichtet.

2.

Warum die Pferde wechseln? Weder in Umfragen, die den Kanzler nach eigenen Angaben nicht interessieren, noch bei jüngeren tatsächlichen Wahlen wie in Bayern und Hessen lief es famos für seine Partei. Bislang fanden sich jeweils Umstände zur Erklärung, die von Verantwortung entbanden oder, in Wiesbaden, sogar ein freundlicher Wahlsieger auf der Suche nach neuen Partnern. 

Am Spitzenpersonal vor Ort kann es also nicht gelegen haben. An den Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil auch nicht: Die beiden wollen im Dezember wieder kandidieren und auch ihren Generalsekretär Kevin Kühnert behalten, wie die dpa diese Woche zuerst berichtete.

3.

Osama bin Laden wird TikTok-Held: Ein islamistisches, antiamerikanisches und antisemitisches Pamphlet des ehemaligen Al-Qaida-Anführers und Terroristen Osama bin Laden verbreitet sich derzeit rasend schnell auf der chinesischen Videoplattform TikTok und wird vor allem von jungen Nutzern geradezu gefeiert. Die Reaktionen fallen überrascht bis schockiert aus. „Cool. In den USA entdeckt Generation Z Osama Bin Laden. Stand nicht auf meiner Bullshitbingo-Karte“, schreibt etwa Militärexperte Carlo Masala auf X.

Guardian löscht Brief: Der Guardian hatte den vollständigen Brief bereits 2002 auf seiner Website veröffentlicht. Dort fand der Brief aber wenig Beachtung — bis zu dieser Woche, als sich Inhalte des terroristischen Manifests plötzlich auf TikTok verbreiteten, wie Julius Geiler im Tagesspiegel schreibt. Daraufhin löschte der Guardian die Seite. Die Begründung: einzelne Passagen würden sich ohne Kontext verbreiten. Das sorgte für noch mehr Aufmerksamkeit und — klar — den Vorwurf, „die Medien“ versuchten, bestimmte Meinungen zu unterdrücken.

Masterclass Desinformation: TikToker schildern in Videos, die teils millionenfach gesehen wurden, der Brief habe ihnen die „Augen geöffnet“ — sie blickten jetzt anders auf das Weltgeschehen. Die Kommentarspalten enthalten auffallend viele Lobeshymnen von jungen Nutzern — besonders beliebt sind offen antisemitische Passagen. Wie die Jerusalem Post anmerkte, sei der dazugehörige Hashtag #LetterToAmerica auf TikTok über vier Millionen Mal aufgerufen worden. Am Donnerstagabend war dieser nicht mehr zu sehen — trotzdem waren besagte Videos mit einem Suchbefehl problemlos auffindbar.

Problem erkannt? Eine TikTok-Sprecherin sagte der dpa, die Anzahl der Videos auf TikTok sei gering, Berichte über einen Trend unzutreffend. Sie fügte hinzu: „Inhalte, die für diesen Brief werben, verstoßen eindeutig gegen unsere Regeln (…) Wir entfernen diese Inhalte proaktiv und aggressiv und untersuchen, wie sie auf unsere Plattform gelangt sind.“

Zitat der Woche

Und eigentlich ist damit jede Legitimation vorbei, weiter regieren zu können. Im Grunde genommen kann eine Regierung so nicht weitermachen.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) am Mittwoch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Deutschland in Daten

Immer mehr Geld für das Schienennetz der Deutschen Bahn
in Kooperation mitStatista

Zu guter Letzt

Löchrige Netze? Im Interview mit SZ Dossier schaut Claudia Plattner, die neue Präsidentin des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), in Sorge um ebendiese Sicherheit ausgerechnet auf die Netze des Bundes. Auf die Frage, ob sie derzeit ein Sicherheitsrisiko darstellen, antwortete Plattner, man müsse sie dringend renovieren: „Aus meiner Sicht brauchen wir Investitionen in die Netze des Bundes. Und einen klaren Fahrplan, wie die zukünftig aussehen sollen. Dafür sind wir als BSI aber nicht zuständig, das müssen andere tun“, sagte Plattner.

Kein Geld: Markus Richter, Bundes-CIO und Staatssekretär im Bundesinnenministerium, ist der richtige Mann dafür, und er widerspricht gar nicht. Ebenfalls im Gespräch mit uns — Leserinnen und Leser des Dossiers Digitalwende wissen mehr — sagte er, die Netze des Bundes seien „historisch gewachsen“. Den Anforderungen der Gegenwart würden sie „in keiner Weise mehr“ gerecht. Dadurch entstehe sowohl ein Sicherheits- als auch ein Betriebsrisiko. Doch wie bei vielen Digitalvorhaben fehlt das Geld, sagte Richter: „Das, was wir aktuell jährlich für den Betrieb ausgeben, bräuchten wir, um eine neue Architektur aufzubauen.“

Werden die Rechenzentren aufpoliert? Die Haushälter haben nach der Bereinigungssitzung zwar nicht mehr Geld für die Rechenzentren des Bundes im Angebot. Aber eine Aufforderung, einen sogenannten Maßgabebeschluss, an das Innenministerium, die „defizitäre IT-Sicherheitssituation“ in den Griff zu bekommen, wie mein Kollege Matthias Punz im heutigen Dossier Digitalwende berichtet. Erst Ende Oktober meldete der Bundesrechnungshof in einem Geheimbericht an die Haushälter, dass dringend reagiert werden müsse. Darin hieß es: „Gravierende Sicherheitsmängel der Rechenzentren des Bundes bei knappen Ressourcen bedrohen die Handlungsfähigkeit der Bundesverwaltung.“

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin