Jessica Rosenthal ist noch nicht ganz in der richtigen Stimmung für das, was sie gleich vorhat. Zu aufgewühlt ist sie von den Ereignissen am Freitag im Bundestag, davon, dass die Union gemeinsam mit der AfD für das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz gestimmt hat. „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete.
Erst am Morgen ist sie aus Berlin zurück nach Bonn in ihre Heimat geflogen. Jetzt, am Samstagmittag, hat sie sich mit drei Verbündeten in einem Wohngebiet zum Haustürwahlkampf verabredet. Wenn sie gleich an den Haustüren der Menschen klingelt, muss sie ihre Wut verbergen, jetzt heißt es: freundlich sein.
Für die einstige Chefin der Jusos geht es in diesen Tagen um nicht weniger als die Fortsetzung ihrer politischen Karriere. Seit 2021 sitzt sie im Bundestag, ob sie das auch nach der Wahl am 23. Februar noch tun wird, ist äußerst fraglich. Auf der Landesliste der SPD in Nordrhein-Westfalen taucht ihr Name erst auf Rang 34 auf. Aller Voraussicht nach wird das nicht für einen Sitz im Parlament reichen. Die 32-Jährige muss das Direktmandat gewinnen, andernfalls droht ihr das Aus.
2021 war es ein enges Rennen in Bonn: Rosenthal verlor knapp gegen Katrin Uhlig von den Grünen, am Ende machten 216 Stimmen den Unterschied. Dieses Jahr ist die Situation anders: Die Umfragewerte der SPD sind schlecht, und mit dem Virologen Hendrik Streeck schickt die CDU einen politisch zwar unerfahrenen, aber prominenten Gegner ins Rennen. Das YouGov-Wahlmodell sieht den CDU-Mann derzeit deutlich vor Grünen und SPD, die nahezu gleichauf liegen. Rosenthal braucht also jede Stimme.
Um diesem Ziel näher zu kommen, haben sie und ihr Team sich dieses Mal die Straßen auf dem Brüser Berg im Bonner Stadtbezirk Hardtberg ausgesucht. Hier mischen sich kleine Reihenhäuschen unter mehrgeschossige Wohnanlagen, der Altersdurchschnitt der Bevölkerung sei eher hoch, sagt Rosenthals Mitarbeiter, außerdem lebten hier viele Menschen mit Migrationshintergrund. Eine Gegend mit SPD-Potenzial also.
Rosenthal klingelt an der ersten Tür, eine Frau öffnet. Die SPD-Bewerberin stellt sich kurz vor, sagt, sie wolle, dass die Anwohnerin sie auch einmal in echt gesehen habe. Und auch, dass sie sich über ihre Unterstützung bei der Wahl freuen würde. Dann drückt sie der Frau einen Flyer in die Hand und verabschiedet sich. Ein kurzes „Hallo“, mehr ist es nicht.
Laut den Strateginnen und Strategen in der SPD-Parteizentrale ist der Haustürwahlkampf „nachweislich der effektivste Weg, um SPD-nahe Menschen dazu zu bewegen, am Wahltag oder per Briefwahl ihre Stimme für die SPD abzugeben“. So steht es in einem parteiinternen Handbuch für Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer. Es gehe dabei weniger darum, Menschen zu überzeugen, sondern darum, sie zu mobilisieren. Lange Gespräche sind nicht vorgesehen, stattdessen soll der Besuch „nach wenigen Minuten freundlich enden“.
Während Rosenthal klingelt, führt ihr Mitarbeiter Buch. In einer App der SPD wählt er den Straßenabschnitt aus, in dem sie unterwegs sind, vermerkt, ob die Tür geöffnet wurde und wie die Stimmung war. Zwischen „Gut“, „Mittel“ und „Schlecht“ kann er dabei wählen. An der sechsten Tür trifft die SPD-Bewerberin eine ältere Frau an, wieder stellt sich Rosenthal vor, übergibt ihren Flyer. „Ich lese es mir durch“, sagt die Dame, Briefwahl habe sie schon beantragt. Stimmung „Mittel“ trägt ihr Mitarbeiter ein.
Damit Rosenthal Chancen auf das Direktmandat hat, müsste die SPD bundesweit noch in den Umfragen zulegen. Ob Olaf Scholz dabei eine Hilfe ist? „Wer die letzte Woche aufgepasst hat, wird schon wissen, was er an Olaf Scholz hat“, sagt Rosenthal. Friedrich Merz' Bohren an der Brandmauer scheint die Genossen offenbar motiviert und zusammengeschweißt zu haben.
Schließlich hat sich die einstige Juso-Chefin in der Vergangenheit mehrmals auf Konfrontationskurs zum Kanzler begeben: Rosenthal kritisierte den Flüchtlingskurs der Bundesregierung, ging auf Distanz zum Sondervermögen für die Bundeswehr und stimmte im vergangenen Oktober gegen die Verschärfungen des Asylrechts. Jetzt sagt sie: Scholz würde für sein eigenes Ego nicht das Wohl des Landes gefährden. Soll heißen: anders als Friedrich Merz.
Dann kommen die SPD-Wahlkämpfer an einen Wohnblock. Rosenthal klingelt – vergeblich. Ein Mann mit schwarzer Sonnenbrille schiebt sein Fahrrad aus der Tür, am Lenker baumelt eine Tüte mit Plastikflaschen. „Wenn ihr da einfach so reingeht, ist das Hausfriedensbruch“, sagt er. Ein paar Meter weiter bleibt er stehen und beobachtet die Genossen. „Deswegen klingeln wir ja“, sagt Rosenthal. Er könne warten, entgegnet der Mann. Kurz darauf aber zieht er weiter. „Stimmung schlecht“, sagt Rosenthal.
Wenige Augenblicke später öffnet schließlich jemand die Pforte, die SPD-Politikerin geht die Treppenstufen hinauf, klappert eine Wohnung nach der anderen ab. Wer nicht zuhause ist – oder nicht öffnet – dem hängt sie ihr Werbematerial an die Türklinke.
Zwischen 60 und 70 Türen werden es an diesem Nachmittag sein. Ein guter Schnitt sei das für eine Stunde, sagt ihr Mitarbeiter. Etwa ein Drittel habe geöffnet. Bis zu ihrem Ziel ist es also buchstäblich noch ein weiter Weg für Jessica Rosenthal. Tim Frehler