Vom neuesten Kapitel in der Affäre ihrer Partei hat Anita Maaß erst am Donnerstagabend erfahren. Stunden zuvor hatte die FDP jenes achtseitige Dokument veröffentlicht, das in der Zwischenzeit mehrere Spitzenleute ihr politisches Amt und die Partei wohl einiges an Glaubwürdigkeit gekostet hat. Anita Maaß aber war am Donnerstag mit anderen Dingen beschäftigt: Es war Stadtratssitzung in Lommatzsch, einer Gemeinde im Landkreis Meißen. Hier ist Maaß Bürgermeisterin. Das D-Day-Papier habe sie erst abends im Bett gelesen.
Am Freitagvormittag dann sitzt Maaß im Fraktionssitzungssaal der FDP im Reichstagsgebäude. Die Bundestagsfraktion hat zum kommunalpolitischen Forum geladen. Der Zeitpunkt war gut geplant, eigentlich hätte der Bundestag an diesem Freitag über den Haushalt abstimmen sollen, alle wichtigen Politiker wären in Berlin gewesen. Daraus wurde bekanntlich nichts. Aber wenn gerade alles zusammenbricht, kann es ja helfen, sich an Alltägliches zu klammern. Also diskutieren liberale Bundes- und Kommunalpolitiker nun darüber, wie man mit den Kassenkrediten der Stadt Wuppertal umgeht. Darüber, wie lange es dauert, 17 Bäume umzusägen. Und welche Behörde gefragt werden muss, bevor einer mal die Säge anwirft. Über den Alltag in der Kommunalpolitik eben.
Doch bei all dem Fokus auf reale Probleme – davor, was sich draußen abspielt, was die Partei und das ganze Land umtreibt, können sie sich hier im Sitzungssaal nicht abschotten. Kurz vor dem Ende des ersten Panels – es geht gerade darum, wie viele Wortbeiträge noch möglich sind – platzt es aus einem der Teilnehmer heraus: „Ich glaube, wir haben noch Zeit, weil unser Generalsekretär gerade zurückgetreten ist.“ Ein junger FDP-ler klopft mit der Faust auf den Tisch. Anita Maaß verfolgt das alles vom Podium aus.
Eigentlich wäre nach den Kommunalfinanzen der Chef mit einem Impuls an der Reihe. Doch Christian Lindner kommt nicht. Stattdessen tritt um 11:36 Uhr Bijan Djir-Sarai auf. Nicht persönlich natürlich, sondern im Livestream von Phoenix, den sie jetzt an die Wand projizieren. Wieder unterbricht also die Bundespolitik die Kommunalpolitik. Der Generalsekretär gibt bekannt, von nun an nicht mehr Generalsekretär zu sein – und tritt ab. „Kurz und schmerzlos“, sagt einer der umstehenden FDP-ler. „Gibt bessere Tage“, ein anderer. Kommunikativ sei das eine „Katastrophe, was da abgelaufen ist“, schimpft ein Kommunalpolitiker aus Baden-Württemberg. In Richtung des Generalsekretärs a. D. sagt er: „Wie kann es sein, dass in seinem Haus ein Papier erstellt wurde, von dem er nichts wusste.“
Auch Anita Maaß verfolgt den Abgang Djir-Sarais. Ihr ist anzumerken, dass sein Rücktritt sie nicht kaltlässt. Aber: „Er zieht die politische Konsequenz und übernimmt die Verantwortung für die Indiskretionen, durch die die Glaubwürdigkeit der Partei beschädigt wurde.“ Ihren Standpunkt zu der Affäre vertreten viele FDP-Politiker hier im Reichstag: „Jede Partei hat sich mit diesen Szenarien beschäftigt.“ Aber die Wortwahl, die Tonalität sei „höchst problematisch. Blödsinnig“, sagt Maaß. „Wir werden gerade zerrissen“, sagt sie. „Und wir zerreißen uns auch noch selbst.“ Dabei bleibe ihrer Partei nicht mehr viel Zeit bis zur Bundestagswahl.
Seit knapp zwanzig Jahren ist die 48-Jährige Bürgermeisterin in Lommatzsch, als sie 2005 ihr Amt antrat, war sie mit 29 Jahren die jüngste Bürgermeisterin Sachsens – und nicht gerade in einer glücklichen Ausgangslage. „Ich habe damals eine hoch verschuldete Gemeinde übernommen“, sagt Maaß. „Die Stadt hatte eine faktische Schuldenbremse.“ Eine Situation, wie sie heute auch viele Städte, Gemeinden und Landkreise fürchten. Laut dem Statistischen Bundesamt beträgt das Defizit in den kommunalen Haushalten im ersten Halbjahr dieses Jahres mehr als 17 Milliarden Euro, hat sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Demgegenüber steht ein riesiger Investitionsstau.
Ja, sagt Maaß, die Kommunen bräuchten mehr Geld. Doch das allein reiche nicht. „Alle staatlichen Ebenen müssen ihre Hausaufgaben machen.“ Sie selbst habe äußerst unpopuläre Entscheidungen getroffen, etwa die Amtsleiterebenen in der Verwaltung abgeschafft und den Sachbearbeitern mehr Eigenverantwortung gegeben. 2011 schloss sie das Freibad. Auf allen Ebenen müsse man sich anschauen, wo es Redundanzen gebe, wo effektiver gearbeitet werden könne. Die Finanzströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen müssten transparenter werden. Und was es brauche, sei mehr Selbstverantwortung für die Kommunen, mehr Finanzhoheit. „Weil sie einen Großteil der Aufgaben tragen, brauchen sie auch einen Großteil der Mittel“, sagt Maaß. Bund und Länder müssten sich dann überlegen, wo sie priorisieren und sparen.
Dass ihr so ein ähnlicher Konsolidierungskurs heute noch einmal gelingen würde, glaubt Maaß allerdings nicht. Durch die sozialen Medien sei es für Politiker viel schwerer geworden, Orientierung zu geben. Sie erlebe das am Beispiel Windkraft. Die Diskussionen, die sie dazu führe, seien nicht mehr steuerbar, viele Menschen ließen sich durch Argumente nicht mehr erreichen, lebten in ihren eigenen Blasen. „Und seit Corona ist das Vertrauen in staatliche Institutionen weg.“
Alles wichtige Themen. Überlagert werden sie am Freitag allerdings von der Debatte über das D-Day-Papier. So auch als sich wenige Minuten nach Djir-Sarais Abschied und einem Gruppenfoto alle wieder im Saal treffen. Da ruft ein junger FDP-ler: „Der Bundesgeschäftsführer hört auch auf.“ „Schön“, sagt derjenige, der zuvor geklopft hat. „What a time to be alive.“