Spüren kann man den Wunsch vieler Menschen nach Orientierung, nach Sicherheit und Ordnung, nach einer Regierung, die durchgreift, die ihre Leute abschirmt vor all den Unwägbarkeiten dieser Welt: Jüngste Wahlergebnisse lassen sich so lesen. Die Autoren der Leipziger Autoritarismus-Studie, die seit mehr als zwanzig Jahren alle zwei Jahre erscheint, haben diesen Wunsch und dieses Gefühl vermessen. Ihre Ergebnisse haben sie gestern vorgestellt. Die wichtigsten Erkenntnisse.
Ost- und Westdeutschland nähern sich an: bei der manifesten Ausländerfeindlichkeit. Die ist zwar in Ostdeutschland immer noch deutlich verbreiteter als im Westen, doch der Abstand schmilzt. Der Anteil der Menschen mit einem geschlossen ausländerfeindlichen Weltbild sank im Osten zwischen 2022 und 2024 um gut eineinhalb Prozentpunkte und liegt momentan bei 31,5 Prozent. Im Westen hingegen ist der Anteil von 12,6 Prozent im Jahr 2022 auf 19,3 Prozent in diesem Jahr gestiegen. Im Bereich des manifesten Chauvinismus, wo es um eine übergroße Identifikation mit der eigenen Gruppe, in diesem Fall mit der „Deutschen“, geht, hat sich der Westen sogar vor den Osten geschoben.
Was wieder sagbar wird: Die Studie verzeichnet in Westdeutschland zum zweiten Mal in Folge einen Anstieg des Antisemitismus. Der Anteil der Menschen mit manifest antisemitischen Einstellungen im Westen liegt in diesem Jahr bei knapp fünf Prozent. „Das mag auf den ersten Blick wenig erscheinen“, sagte Studienautor Oliver Decker. „Wir müssen aber bedenken, dass wir hier sehen, wie eine soziale Sanktion, die für das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland zentral ist, zurückgeht.“ Das Sagbare wiederum nehme zu, sagte Decker.
Bei einer spezifischen Form des Antisemitismus, dem so genannten Schuldabwehrantisemitismus, sehe man „sehr deutlich hohe Werte“, sagte Decker. Sie speisen sich aus der Wut darauf, dass die lebenden Juden die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Deutschen aufrechterhalten. Es sei daher kein Wunder, dass die AfD diese Form des Antisemitismus mit Motiven wie der Hundertachtziggradwende in der Erinnerungspolitik „massiv bespielt“, sagte Decker. „Es ist ein Echoraum in der Bevölkerung dafür vorhanden.“
Antisemitismus ist auch in der politischen Linken hoch ausgeprägt, die Fachleute sprechen daher von einer Brückenideologie. Links außen sei selbst der tradierte Antisemitismus „ein Motiv, das vorkommt, das deutlich ist“, sagte Decker. Der Befund sei klar: „Die Ansprechbarkeit links außen für Antisemitismus in linken Bewegungen ist da. Und je mehr es auf Israel bezogen wird, umso deutlicher wird es.“ Ebenfalls interessant: Bei Menschen, die sich selbst politisch links der Mitte einordnen, sind antisemitische Einstellungen am geringsten verbreitet.
Retraditionalisierung: Überrascht hat die Wissenschaftler auch, wie sich die Einstellungen zum Sexismus in Ost- und Westdeutschland entwickelt haben. Schließlich seien die Zustimmungswerte hierfür im Osten stets niedriger gewesen als im Westen. 2024 finden sich nun einzelne Parameter, bei denen sich das geändert hat. So sagen 31,4 Prozent der Ostdeutschen, Frauen sollten sich wieder mehr auf ihre Rolle als Ehefrau und Mutter konzentrieren, im Westen sagen das 25,7 Prozent. Ein Drittel der Befragten im Osten empfindet Frauen, die sich gegen eine Familie und Kinder entscheiden, als egoistisch, im Westen sind es 18,9 Prozent. Insgesamt beobachte sie insbesondere in der jüngeren Generation eine „Retraditionalisierungstendenz“, sagte Studienautorin Ayline Heller.
Demokratie unter Druck: Die Zustimmung zur Idee der Demokratie an sich ist zwar weiterhin hoch, geht aber in Westdeutschland deutlich zurück. Massiv eingebrochen ist die Zufriedenheit der Menschen mit der Demokratie im Alltag, also so wie sie in der Bundesrepublik funktioniert. Damit ist nicht einmal mehr die Hälfte der Befragten zufrieden, in Ostdeutschland nicht einmal ein Drittel. Vor zwei Jahren lagen die Werte noch durchweg bei mehr als 50 Prozent.
Ruf nach starker Exekutive: Es gebe einen Wunsch nach einer starken Exekutive, sagte Oliver Decker dazu. „Nach einer starken Partei, die eine möglichst homogene Volksgemeinschaft repräsentiert.“ Und die eine Art Geländer, eine Form der Sicherheit biete – in autoritärer Form. Als Beleg dafür nannte er die hohe Zufriedenheit mit der Regierung, die die Wissenschaftler 2022 gemessen haben. Diese Zufriedenheit habe sehr viel mit der Stärke der Exekutive unter Pandemiebedingungen zu tun gehabt und sei danach förmlich weggesackt.
Politische Heimat gesucht und gefunden haben den Daten zufolge Menschen mit rechtsextremen Einstellungen. 2006 wählten demnach noch 42 Prozent von ihnen die Union, 41 Prozent die SPD. Die Wahlbeteiligung unter Rechtsextremen lag bei 83 Prozent. 2024 gehen sie zwar nicht mehr so häufig wählen, die Wahlteilnahme liegt noch bei 72 Prozent. Wenn sie es aber tun, wählen sie überwiegend die AfD. Der Studie zufolge gaben unter Rechtsextremen 56 Prozent ihre Stimme der AfD. Umgekehrt haben, laut Decker, zurzeit jene Menschen Schwierigkeiten, eine politische Heimat zu finden, die liberaldemokratisch gesinnt sind. Tim Frehler