Der nächste Generalsekretär der Nato bringt zwei zentrale Qualitäten mit für den Job: Er ist liberaler Atlantiker durch und durch und ein Pragmatiker der Macht.
Gestern zog Rumäniens Staatspräsident Klaus Iohannis seine eigene Kandidatur zurück. Anfang der Woche hatte Ungarns Premierminister Viktor Orbán seinen Widerstand gegen Rutte aufgegeben. So steht seiner Ernennung niemand mehr im Weg. Er könnte Anfang Juli als Gerade-noch-Premier der Niederlande zum Gipfel der Allianz nach Washington fliegen und als Generalsekretär zurückkehren. Wer treibt den Mann an?
Weggefährten, Diplomaten, Brüsseler Beamte und Regierungsvertreter anderer Länder zeichneten in Gesprächen über viele Jahre hin ein Bild, das neue Elemente bereichern, nicht verändern: Kompromisse zu finden, das liegt Mark Rutte. Er hat bald 14 Jahre lang als niederländischer Premierminister bewiesen, dass er sogar in einem stark zersplitterten System Regierungen zusammenhalten kann.
Als das Ende seiner Regierungszeit absehbar wurde, begann Rutte zu überlegen, was als Nächstes kommen könnte. Gehandelt wurde er (auch schon vor fünf Jahren) etwa als Präsident des Europäischen Rates. Er ließ jedes Interesse dementieren mit dem Hinweis, er könne durchaus Vollzeit arbeiten. Er hat Freude daran sich auszupowern, sogar in einem Höllenjob wie dem bei der Nato.
Das wichtigste Militärbündnis der Welt anzuführen, das den freien Westen stützt, gerade dann, wenn dessen Werte und möglicherweise Grenzen unter Druck stehen: eher nach Ruttes Kragenweite. „Die Nato in den geopolitischen Herausforderungen der Zeit zu positionieren, ist ein Traumjob für den Historiker in ihm“, sagte mir ein früherer Mitarbeiter. „Für den Politiker, denke ich, ist es genau das, was er braucht, um seine Energie loszuwerden.“
2019 hielt er eine Grundsatzrede an der Universität Zürich. Rutte warb Jahre vor Olaf Scholz’ Zeitenwende-Moment dafür, „dass die EU als Ganzes und die europäischen Nato-Mitglieder einzeln mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“, wie er in jener Rede sagte. „Auch wenn das seinen Preis hat.“
In der Churchill Lecture, zu der er in Zürich eingeladen war und die nun als Leitfaden herhalten kann, buchstabierte er drei Ziele aus: die USA im Bündnis zu halten, die europäischen Verteidigungsausgaben angemessen und dauerhaft zu erhöhen und die Nato an die neuen Gegebenheiten anzupassen; ein Werk, das Jens Stoltenberg begann.
2019 war Donald Trump US-Präsident. „Manchmal muss man mit dem tanzen, der auf der Tanzfläche steht. Wir haben nicht immer eine Wahl“, sagte Rutte in Zürich. „Aber vergessen wir nicht, dass das Gleiche auch für unsere Tanzpartner gilt.“ Er glaube an gemeinsame Interessen, an Rationalität und daher daran, dass das Bündnis „niemals schwach oder obsolet werden wird“.
Rutte ist unprätentiös wie ein Hollandrad: Er hat in der EU viele Kompromisse mitverhandelt, erinnern sich Brüsseler Diplomaten. Er ist einer aus der Merkel-Schule. Die beiden stehen in Kontakt, er sah die Altkanzlerin beim letzten Deutschlandbesuch. Ruttes Mantra: Jeder soll mitgehen können, da gibt man etwas, bekommt etwas, verliert etwas und am Ende steht ein Kompromiss, den alle vertreten können. „Er hat kein Problem damit, sich kleinzumachen, wenn es seinen politischen Zielen dient“, sagte der Mitarbeiter.
Wo jeder mitgehen können soll, ist nicht viel Raum für Visionen. Da ist Rutte bei Helmut Schmidt, den er gern zitiert. Als Liberalen stört es ihn, wenn andere ihre Vorstellungen zur moralisch einzig richtigen Politik erheben. Er hängt da einer anderen Spielart des Liberalismus an als der französische Präsident. Für Rutte, sagen Menschen, die ihn aus internen Runden kennen, beginnt Politik damit, Motive und Bedürfnisse des anderen zu verstehen.
Es hat für ihn mit Respekt zu tun, Wahlergebnisse Andersdenkender anzuerkennen. Für Autokraten und Diktatoren gilt das in sehr abgeschwächtem Maße oder gar nicht. Rutte steht eisern an der Seite der Ukraine. Orbán, der sich den Staat unterwerfen will, hat in Rutte im Europäischen Rat mehrfach heftigen Widerstand gefunden, deutlich mehr als bei Christdemokraten. Gleichzeitig regiert eine Rechtsaußen-Partei in den Niederlanden bald mit Ruttes VVD.
Wer Rutte besser kennt, berichtet von einem feingeistigen, kulturell gebildeten, belesenen und geschichtsbewussten Mann. Er wollte einmal Konzertpianist werden. Aber das alles und noch viel mehr ist für ihn Privatangelegenheit, nicht Teil des Profils, das er als Politiker pflegt: Er hat Politik zum Beruf – ein stolzer Klempner der Macht, der an dem Vergleich nichts beleidigend fände.