Donnerstag vergangener Woche. Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan steht auf einer kleinen Bühne im Willy-Brandt-Haus. „2030 werden wir eine Minority Majority haben, das heißt, der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird über 50 Prozent liegen“, sagt sie. „Dieser demografische Wandel ist nicht einfach nur demografischer Wandel, sondern auch Machtwandel in allen Positionen.“
Vor ihr sitzen, ungewöhnlich genug, Politikerinnen und Politiker von SPD und Grünen. Die stellvertretenden Parteivorsitzenden Serpil Midyatli und Pegah Edalatian haben zu einem Vernetzungstreffen von Politikerinnen und Politikern beider Parteien mit Migrationsgeschichte geladen. Foroutan hält einen Impulsvortrag. Über Wählerinnen und Wähler mit Migrationsgeschichte, die SPD und Grüne ansprechen könnten – es aber nicht tun. Dabei seien sie so mobilisierbar wie selten. Oft aber würden Menschen mit Migrationsgeschichte behandelt, als müssten sie der Gesellschaft etwas zurückgeben.
Sie säßen auf Bühnen und ließen sich „von Steinmeier tätscheln“, es würden noch immer die Geschichten von „ihr gehört auch dazu“ erzählt. Dabei sei es „high-end cool“, was die Türkeistämmigen erreicht hätten, sagt Foroutan. „Die ganze Rapszene, die ganze Fußballszene, die Unternehmer“, sagt Foroutan. Klatschen im Saal, Zustimmung der anwesenden Politikerinnen und Politiker.
Ihre Kinder fänden, diese Art der präsidialen Bevormundung sei Boomer-Talk, so spreche die alte Generation, für die Jungen gälten andere Maßstäbe. Recht haben sie, sagt Foroutan, längst seien Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.
Dann kommt sie zum – für Politikerinnen und Politiker – spannenden Teil. Dem Wähleranteil. Der Mikrozensus von 2022 sage, dass 13,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Deutschland einen Migrationshintergrund hätten. „Traut dem nicht“, sagt Foroutan. Seitdem seien die Zahlen kontinuierlich gestiegen, allein in dem Jahr habe es 28 Prozent mehr Einbürgerungen gegeben. Zudem hätten überproportional viele Jugendliche einen Migrationshintergrund – und sie dürfen bei der Europawahl erstmals abstimmen. Es könne also durchaus sein, dass bei der Europawahl nicht 13,4 Prozent Wählerinnen und Wähler mit Migrationsgeschichte abstimmen, sondern eher 16 bis 17 Prozent.
Dann macht Foroutan eine Rechnung auf: Von den Menschen mit Migrationsgeschichte kämen etwa die Hälfte aus Polen, Russland oder anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Etwa 25 Prozent kämen aus arabischen Ländern und der Türkei. Die „muslimischen Votes“ nennt sie sie, also die muslimischen Wählerstimmen.
In Michigan, USA, hat die muslimische Wählerschaft es geschafft, den Diskurs teilweise zu bestimmen, in dem sie dazu aufgerufen hat, bei den Vorwahlen den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden nicht zu unterstützen – wegen der amerikanischen Unterstützung Israels während des Gaza-Kriegs. Er muss nun um sie kämpfen, sonst droht er, in wichtigen Swing States, die mal demokratisch, mal republikanisch wählen, zu verlieren.
Könnten die muslimischen Wählerstimmen in Deutschland ein ähnliches Gewicht erreichen? Foroutan erzählt von einem Treffen, bei dem sie kürzlich war, mit muslimischen Akteurinnen und Akteuren. „Ich will Euch sagen, Grüne und SPD sind nicht ein einziges Mal gefallen“, sagt sie. Einer, der sie eingeladen habe, habe gesagt, er wolle alle von der Strategie überzeugen, das Bündnis Sahra Wagenknecht zu wählen. Ein Raunen geht durch das Publikum. Der Grund: der Gaza-Krieg. „Eine taktische Strategie“ nennt Foroutan es, um zu zeigen, wie wichtig diese Gruppe sein kann.
Für die demokratischen Parteien sei es schwierig, offensiv um migrantische Stimmen zu werben, weil es sie durch die AfD „sofort in Bedrängnis“ bringe – weil eben die Rechten und Rechtsextremen das Narrativ in puncto Migration derzeit beherrschen. Foroutan aber hat einen Tipp: Es wie die AfD machen und auf Tiktok um genau diese Stimmen buhlen.
„Da kann man Leute anwerben, ohne dass die anderen das merken“, sagt sie. Ausgerechnet die AfD kämpfe dort um migrantische Wählerstimmen. Menschen mit Migrationsgeschichte wählten die AfD übrigens in etwa zu gleichen Anteilen wie Menschen ohne Migrationsgeschichte. Was, ungute Ironie der Geschichte, dazu führen könnte, dass ausgerechnet diese Gruppe die AfD bei Wahlen in nicht allzu ferner Zukunft zur stärksten Kraft machen könnte. „Das ist“, warnt Foroutan „nicht unrealistisch.“