Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hielt gestern erneut eine Rede an der Sorbonne. Wenn Sie an der Kaffeemaschine heute früh nur einen Satz brauchen: Damit wird er kaum an den Erfolg des ersten Males anknüpfen können.
Président philosophe. Der eine Satz, mit dem Macron im Gedächtnis bleiben will, lautete diesmal: „Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser Europa sterblich ist, es kann sterben.“ Er schaute recht nachdenklich dabei, meinte es wenig metaphorisch. Neuerdings hat er es mit martialischer Drastik, wie neulich bei der „hirntoten“ NATO: Europa müsse aufrüsten, wie es auch die Rivalen weltweit täten, sagte er.
Der Unterschied zu Olaf Scholz könnte größer nicht sein. Macron liest seine innenpolitische Lage so, dass ihm ein selbstbewusstes, auch militärisch starkes Frankreich gegen die rechts- und linksextremen Russlandfreunde hilft. Er spielt es sehr entschieden so.
Die größte Gefahr für die Sicherheit Europas sei der Krieg in der Ukraine: „Die Grundvoraussetzung für unsere Sicherheit ist, dass Russland diesen Angriffskrieg nicht gewinnt“, sagte Macron; da würde Scholz noch mitgehen. Macron aber will zudem beweisen, dass Europa kein „Vasall“ der USA sei, wie er in seiner Rede erneut sagte. Das bisschen Größenwahn entwickelt man als Atommacht eben leichter.
Armer missverstandener Friedenskanzler! Macron kommt im Rahmen des nachgeholten Staatsbesuchs Ende Mai nach Münster, um dort den Westfälischen Friedenspreis entgegenzunehmen.
Macron hat die Gabe, gern zu sprechen. Unter erfahrenen Reportern sind seine Pressekonferenzen das kürzeste Streichholz, das man auf Brüsseler Gipfeln ziehen kann – wer über den großen Schweiger aus Berlin berichtet, sitzt längst beim Bier, wenn Macron noch lange kein Ende gefunden hat. Weil aber lange Rede viel Stoff verbraucht, war die Sorbonne II reich an Details.
Darunter dies und das, von einem Social-Media-Verbot für Kinder bis zu Kritik an den unter dem Namen Basel III bekannten Eigenkapitalvorschriften für Banken. Für die Europäische Zentralbank solle zudem gelten: „Wir können nicht länger eine Geldpolitik haben, die allein auf die Inflation abzielt.“ Stattdessen müsse das Mandat der EZB „mindestens“ ein Wachstumsziel und besser auch ein Ziel der Dekarbonisierung der Wirtschaft beinhalten.
Einige europäische Partner hatte der Élysée Tage vorab über die Rede und die Tatsache informiert, dass Macron einen Beitrag zur strategischen Agenda der EU für die nächsten fünf Jahre leisten wolle; die Übung steht nach der Europawahl auf der Tagesordnung der Staats- und Regierungschefs. Überrascht bis angesäuert stellten manche in den vergangenen Tagen fest, dass sie, anders als sie dachten, gar nicht als einzige informiert wurden.
Die Lage: 2017, bei der ersten Sorbonne-Rede, war Macron auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Die Begriffe, die er setzte, die Ideen, die er vortrug, blieben haften: europäische Souveränität, strategische Unabhängigkeit, gemeinsame Verteidigung. Der junge Präsident verkörperte für viele ein neues Europa, ein selbstbewusstes Frankreich sowieso.
2024 ist Macron mit 46 immer noch jung. Aber er ist derjenige Präsident, der als Vorgänger von Marine Le Pen ins Gedächtnis Europas einzugehen droht. Die Europawahl wird nach Stand der Umfragen ein Desaster für Macrons liberale Bewegung.
Sie steht ähnlich schwach wie die deutsche Kanzlerpartei, mit dem Unterschied, dass es in Frankreich der rechtsextreme Rassemblement National ist, der mit über 30 Prozent das Feld anführt. Aus dem Élysée hieß es, der Präsident wollte eben eine Grundsatz-, keine Wahlkampfrede halten.
Man nennt es hedging: Mit einer Wahlkampfrede wären schließlich Hoffnungen verbunden, an der Lage noch viel drehen zu können.