Bretons Europa: „Offen, nicht naiv“
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 19. April 2024
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf:

EU-Gipfel: Große Pläne und kein Geld +++ Russische Spione +++ Bayern ❤️ Bundeswehr +++ Postkarte aus Kalifornien: Hendrik Wüst auf Reisen +++ Joint > Zigarette +++ Digitalministerkonferenz: Geburt eines Gremiums



Guten Morgen. Volker Wissing war gut gelaunt gestern Abend am Tegernsee, aber ernüchtert. Nicht von einer langen Reise unter anderem nach Peking, von der er eben erst zurückkam: Er klang bitter ob der Aussicht, ab morgen wieder in Berlin regieren zu müssen.


„Meine Begeisterung für das, was ich da erlebt habe, ist auch begrenzt“, sagte der Verkehrsminister auf dem „Ludwig-Erhard-Gipfel“ auf eine einladend mitfühlende Frage. „Ich habe mich von meinen Koalitionspartnern jetzt zweieinhalb Jahre beschimpfen lassen dafür, dass ich das umsetze, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben.“


Das sähen die Partner anders, aber was hilft’s: „Mit vorgezogenen Neuwahlen ist das nicht zu lösen“, sagte er, am Ende käme etwas Ähnliches heraus, oder Schlimmeres, „wie in den Niederlanden“, wo eine vorgezogene Neuwahl im November bis heute keine Regierung ergab.


Also, frisch auf: Wissing berichtete von einem verkehrspolitischen Projekt, ehrgeizig genug, um im Erfolgsfalle das Koalitionskaro großflächig zu übermalen. Globale Standards will er setzen für selbstfahrende Lkw der jüngsten Generation, er fuhr auf dem Weg nach Tegernsee gestern gerade noch mit auf einem solchen Bock. In China unterschrieb er eine Vereinbarung, ein „wichtiger Meilenstein“.


China ist das eine, aber erst, wenn auch die USA an Bord sind, besteht die Chance, dass der Welt ein Standard genügt. „Wir sprechen mit Partnern weltweit darüber, wie wir die nächsten Regulierungsschritte, die Zulassung, gemeinsam verankern können“, sagte er, vergangenes Jahr war er in Washington, um auch da „enge Zusammenarbeit zu gewährleisten“.


Die Rivalen China und die USA zusammenzubringen, das wäre schon was für einen deutschen Bundesminister. Die Sache ist die: Bis zur nächsten Bundestagswahl, vorgezogen oder regulär, wird es nichts mehr werden mit den globalen Standards. Und dann müsste man angesichts der Umfragen als Liberaler heutzutage fast auf eine Neuauflage der Ampelmehrheit hoffen.


Gerade erreicht uns die Meldung zu Berichten über Explosionen nahe der iranischen Stadt Isfahan. US-Medienberichten zufolge soll es sich um einen israelischen Angriff auf den Iran handeln.


Willkommen am Platz der Republik.

Was wichtig wird

1.

Große Pläne und kein Geld

Bundeskanzler Olaf Scholz dringt also auf eine Vertiefung des europäischen Binnenmarkts, auf „zügige“ Vollendung vor Jahrzehnten begonnener Vorhaben in Sachen Banken und Kapitalmärkten: Der größte Binnenmarkt der Welt „hat seine Potenziale und Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft“, sagte er nach dem Gipfel in Brüssel.


Aufgepasst: Die „Zeit der Ausflüchte“ sei vorbei, sagte Scholz, jetzt müsse was passieren, da sei er sich im Übrigen einig mit dem französischen Präsidenten – und da sollte man doch aufhorchen und eine Plausibilitätsprüfung machen, denn das sind die beiden ja sonst selten, wenn es nicht gerade um Banalitäten geht.


So sieht es aus … Der geplante Beitritt der Ukraine erfordert eine grundlegende Reform der Ausgaben und Einnahmen der EU. Die nötige massive Militärhilfe, damit es die Ukraine zu dem Zeitpunkt auch noch gibt, lässt sich im heutigen EU-Budget nicht abbilden. Ohne kräftiges und anhaltendes Wirtschaftswachstum in den kommenden Jahren wird beides politisch schwer vermittelbar sein: Die EU hat große Pläne und heute nicht das Geld dafür.


… und alle Regierungschefs wissen es: Es geht um kurzfristige Mittel und langfristige Strukturen. In der Regel vergehen einige Jahre und eine Großkrise, bis die EU-Staaten die Lücke zwischen Ehrgeiz und Mittelausstattung schließen. Die Zeichen deuten darauf hin, dass wir uns nicht mehr ganz am Anfang dieses Prozesses befinden. Dass die USA ein riesiges Subventionsprogramm für die grüne Transformation aufgelegt haben, könnte ihn beschleunigen.


Aber noch ist die Not nicht so groß, dass etwa Eurobonds viele Fans hätten. Und auch der erneute Versuch einer „Kapitalmarktunion“, die eine mindestens zum Teil gemeinsame Aufsicht zur Folge hätte, wurde in Brüssel recht kritisch debattiert. Die Tabus werden allerdings weniger, je öfter eines davon fällt, wie begrenzte gemeinsame Kreditaufnahme oder abseits des normalen Haushalts finanzierte Sondertöpfe; mit dem Kanzler sitzt da ja ein Experte für letzteres am Tisch.


Fürs Erste soll es der Kapitalmarkt richten. Man werde das Thema nach den Europawahlen auf die Tagesordnung der nächsten Kommission setzen, sagte Scholz noch. Europa brauche mehr privates Geld, um bestehen zu können. „Ich glaube, dass wir also in diesem Feld jetzt endlich Fortschritte sehen werden.“

2.

Russische Spione

Russlands Versuche, auf die deutsche Debatte um Militär- und Finanzhilfe für die Ukraine einzuwirken, haben ein neues Niveau erreicht, so der Verdacht von Sicherheitsbehörden und Politik. Die Behörden hätten Sabotageaktionen bis hin zu möglichen Sprengstoffanschlägen verhindert, sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD). „Es ist ein besonders schwerer Fall der mutmaßlichen Agententätigkeit für Putins Verbrecher-Regime.“


Warum das wichtig ist: Russland versucht seit Langem, durch Spionage und Desinformation in Deutschland Einfluss zu nehmen, mit dem Ziel, die deutsche Unterstützung der Ukraine zu schwächen und Unsicherheit in der Bevölkerung zu säen. Doch der Verdacht der Sabotage, der Gewalt, wiegt besonders schwer.


Stand der Dinge: Zwei Deutschrussen sind dringend verdächtig, in einem besonders schweren Fall für einen ausländischen Geheimdienst tätig gewesen zu sein. Das teilte der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof gestern mit. Sie wurden am Mittwoch in Bayreuth verhaftet und sind nun beide in Untersuchungshaft.


Kontakt nach Russland: Der Generalbundesanwalt wirft dem Beschuldigten Dieter S. geheimdienstliche Agententätigkeit, Agententätigkeit zu Sabotagezwecken sowie das „sicherheitsgefährdende Abbilden“ militärischer Einrichtungen vor. Er soll mit einem Mitglied des russischen Geheimdienstes in Kontakt gestanden und seit Oktober 2023 in Deutschland Sabotage-Pläne geschmiedet haben. Spätestens seit März habe ihm dabei auch der zweite Beschuldigte geholfen. Oft bieten sich Freiwillige selbst an, laut SZ-Informationen offenbar auch im aktuellen Fall.


Verbatim: „Wir können niemals hinnehmen, dass solche Spionageaktivitäten in Deutschland stattfinden“, sagte der Kanzler. „Es wäre schlicht ungeheuerlich, wenn Russland in Deutschland solche Aktionen tatsächlich plant und konkret umzusetzen sucht“, sagte Konstantin von Notz (Grüne), Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums, und forderte Aufklärung und gegebenenfalls auch eine „entschlossene“ Reaktion. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ließ den russischen Botschafter in Berlin einbestellen. Eine „unverhohlene Provokation“, teilte die Botschaft mit.


Unterdessen in Polen: Wie gestern Abend bekannt wurde, hat auch Polen am Mittwoch einen mutmaßlichen Spion des Kreml verhaftet, der ein Attentat auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vorbereitet haben soll.

3.

Bayern ❤️ Bundeswehr

Bayerns Staatskanzleichef Florian Herrmann sieht Raum für eine Zeitenwende in den Ländern – und sieht sie in ihrem Verantwortungsbereich auch gefordert. Bayern plant zum Beispiel, das militärische Bauen zu erleichtern und die Bundeswehr bei Vorhaben auf ihrem eigenen Gelände von örtlichen Bauvorschriften zu befreien.


Großer Bedarf: „Der Baubedarf der Bundeswehr ist riesengroß, das können die Bauverwaltungen der Bundeswehr und der Länder nicht ohne Veränderungen am gegenwärtigen System bewältigen“, sagte mir der Minister. „Damit schaffen wir die Voraussetzungen, dass möglichst oft schon einmal genehmigte Planungen wiederholt werden können und im Idealfall sogar seriell gebaut werden kann.“


Warum das wichtig ist: Wenn einmal genehmigt für die Bundeswehr gut genug ist, um dieselbe Planung mehrfach zu bauen – es könnte ja Schule machen.


Gesetz im Landtag: Herrmann hat für die bayerische Staatsregierung diese Woche ein Gesetz zur Förderung der Bundeswehr in Bayern in den Landtag eingebracht und musste sich (neben „Kriegstreiber“-Krawall, den die AfD veranstaltete) Fragen anhören: nach Sinn und Zweck der Übung, an der Landesverteidigung aktiv teilnehmen zu wollen. Wird da wieder so dick aufgetragen, wie es dem Ministerpräsidenten gefällt?


Erleichtern, nicht beitragen: Das Gesetz möchte der Bundeswehr Bürokratie abnehmen und hat den Anspruch „so insgesamt die Landes- und Bündnisverteidigung zu erleichtern.“ Das Gesetz ist „ein sichtbarer Beitrag zur Zeitenwende, den es dringend braucht“, sagte Herrmann. „Es ist an der Zeit, den zivilen Bereich und Sicherheitspolitik vernetzt zu denken.“


Soldaten an Schulen: Ein zweiter Punkt ist ein leichterer Zugang der Bundeswehr zu Schulen, für Informationsveranstaltungen. Praktische Regelungen sollen es sein – aber schon auch „politische Signale“, sagte Herrmann. „Ein gesicherter Zugang zu den Schulen und zur Forschung unserer Hochschulen bedeutet für unsere Soldatinnen und Soldaten, dass sie nicht mehr in die Schmuddelecke gestellt werden können.“


Grüße nach Brüssel: Wenn ein stolzes Bundesland sich herbeilassen kann, Staatsräson die Bedingungen zu erleichtern, könnten das auch andere Ebenen, an denen deutsche Politik gestaltet wird: „Das gleiche Signal würden wir uns von der Europäischen Union an die Finanzwirtschaft wünschen, in der Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie wegen der sogenannten Taxonomie schlechtere Konditionen bekommen“, sagte Herrmann.

4.

Postkarte aus Kalifornien

Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) wirbt in den USA für sein Bundesland als Alleskönner: Innovations- und Industrie-, als Luft- und Raumfahrt-, als Film- und Medienstandort und KI-Hotspot – flüssig aussprechen müssten es Amerikaner halt nun noch können. Abgesehen davon: Vor der Präsidentenwahl im November zu kommen ist kein schlechter Zeitpunkt, um mögliche und wirkliche gemeinsame Interessen herauszustreichen und Beziehungen unterhalb der Bundesebenen zu knüpfen und verfestigen.


Gruß von der Westküste: „Nordrhein-Westfalen und die Vereinigten Staaten von Amerika teilen gemeinsame Ziele und sind in Freundschaft eng verbunden“, funkte Wüst uns durch, von einer Reise nach Kalifornien. Das soll Trump überdauern, sollte es dazu kommen: „Unsere vielfältig vorhandenen Kooperationen sind so gefestigt und werden weiter gestärkt, dass sie unabhängig von Wahlentscheidungen zentral bleiben werden."


Road trip: NRW sei „für viele globale Big Player und Wissenschaftsinstitutionen hochattraktiv", sagte er SZ Dossier. In Los Angeles, San Francisco und Seattle besuchte Wüst unter anderem Google, die Stanford University und Hollywood. Neben guter Standortwerbung ist das praktikabel, der schönen Bilder, der Kontakte und der Erfahrung wegen und zwecks der Erweiterung der Kompetenzzuschreibung durch Wähler. Zu Wüsts wenig abrasiver Art passt Schwarzeneggers Kalifornien als politisches Reiseziel womöglich besser als Xis China.


Damit zum Wahlkampf daheim: „Wir haben Hausaufgaben zu erledigen", sagte er, gefragt danach, was er gelernt habe. Zum Beispiel: In Sachen Standortwerbung und Spirit kann man sich von Amerika natürlich etwas abschauen. Andersrum gelte das auch, meint Wüst: „Wenn ich es geschafft habe, das eine oder andere Thema, bei dem wir in Nordrhein-Westfalen stark sind, auf die US-amerikanische Landkarte zu bringen, dann ist das ein Erfolg.“ Zum Abschluss seiner Reise wird Wüst bei Microsoft erwartet.

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Tiefgang

Thierry Bretons Europa: „Offen, nicht naiv“

Um einmal mit einer gewissen Oberflächlichkeit aufzuräumen, die Wettbewerbsfähigkeit vorwiegend an der Bürokratie misst: „Europa steht in Bezug auf seine Wettbewerbsfähigkeit nicht so schlecht da, wie manche es darstellen wollen“, sagte mir Thierry Breton, der EU-Kommissar für Industrie und Binnenmarkt, am gestrigen Gipfeltag.


Sein Argument: Die Wirtschaftskraft der EU und der USA hätten sich in den vergangenen 20 Jahren im Wesentlichen kaum von einem Parallelkurs entfernt, wenn man Wechselkurseffekte abziehe – „im Gegensatz zu dem, was einige in die öffentliche Debatte geworfen haben“, sagte Breton auf die Frage, ob er Christian Lindners Kritik teile, die letzten seien „verlorene Jahre“ gewesen.


Im Zeitraum seit 2004 ist die EU um 13 neue Mitglieder gewachsen, mit den bekannten Schwierigkeiten bei der Angleichung von Lebens-, Investitions- und Innovationsbedingungen. Nicht zu vergessen, sagte Breton: „Bemerkenswert“ sei es auch und ebenso, dass es der EU gelungen ist, „Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen schneller voneinander abzukoppeln als der Rest der Welt".


Soweit die Verteidigung des Standorts und dann auch noch eben der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen, der Breton angehört: „Wir haben entschlossen gehandelt, um uns auf den Märkten und in den Technologien von morgen zu positionieren: Chips, saubere Technologien, Rohstoffe.“ Natürlich, nichts ist perfekt, weder die Lage noch die Reaktion darauf: Die Energiekosten seien zu senken, die Finanzierung von Scale-ups attraktiver zu machen und mehr privates Kapital zu mobilisieren. „Und natürlich muss der Regulierungsaufwand gestrafft werden“, sagte er.


Von der Leyen hat sich auch auf Drängen der Unionsparteien solche Sprache angeeignet. Breton, der im früheren Leben CEO von Atos war, einem weltweit tätigen IT-Unternehmen, kommt sie natürlich über die Lippen, mit französischem Akzent.


„Die Welt um uns herum hat sich dramatisch verändert und unsere Wettbewerbsfähigkeit ist bedroht“, sagte er, also „unsere Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, zu exportieren, zu innovieren, unseren Wohlstand zu mehren und den grünen und digitalen Wandel zu bewältigen, ohne jemanden zurückzulassen und ohne übermäßige Abhängigkeiten zu schaffen“. So wie es bei russischem Gas der Fall war „und wie wir es jetzt bei chinesischer sauberer Technologie riskieren“.


Thierry Breton kam 2019 als Frankreichs Einwechselspieler in die Kommission, nachdem es mit Emmanuel Macrons ursprünglicher Kandidatin nichts geworden war. Selten hat ein Spitzenpolitiker öffentlich so viel Spaß an der Arbeit – an der Sache, an der Machtpolitik, am Rangeln darum, wer sich im Apparat und bei seiner Spitze durchsetzt. Zuletzt war er einer der sehr wenigen, die von der Leyen Contra gaben. Sollte es mit ihrer zweiten Amtszeit nichts werden, Breton tut absolut nichts dagegen, wieder als ein möglicher Plan B gesehen zu werden.


Was also zu tun wäre, etwa für die nächste EU-Kommission, die im Herbst die Arbeit aufnehmen wird: „Es ist an der Zeit, dass wir mutige und konzertierte Schritte unternehmen, um unsere europäische Politik der Wettbewerbsfähigkeit zu stärken“, sagte er. „Ein radikaler Wandel. Ohne Tabus.“ Das heißt weniger Offenheit – weniger naïvité, würde der Franzose sagen – und weniger globale Vernetzung, dafür mehr Standortpolitik, mit dem heute gern „Souveränität“ genannten Ziel.


„Wir müssen unsere strategischen Interessen mit mehr Nachdruck verteidigen“, sagte er. In der Handelspolitik etwa: „Wir haben nur eine einzige Untersuchung über unlauteren Wettbewerb aus eigener Initiative eingeleitet, die über chinesische Elektroautos. Und das, obwohl unsere Gesetzgebung uns viel mehr Möglichkeiten bietet.“ Wer, wie die deutsche Industrie, dicke Geschäfte in China hat, ist naturgemäß nicht sehr scharf auf mehr Nachdruck aus Brüssel, des Gegendrucks wegen.


Standortfragen: „Wir brauchen eine Strategie zum Schutz unserer traditionellen Industrien in einem Kontext, in dem die Spielregeln im globalen Maßstab unfair geworden sind“, sagte Breton mit einem Blick nach China, aber auch in die USA. „Europa muss ein offener Kontinent bleiben, das ist unsere DNA, aber es muss zu unseren Bedingungen offen sein.“


Versorgungssicherheit spielte noch vor Corona keine nennenswerte Rolle in der Industriepolitik, im Gegensatz zum Preis. Geht es nach Breton, muss sich das entlang der ganzen Wertschöpfungskette ändern. „Unsere Schwerindustrien“ seien „ein wesentliches Glied“ darin und bräuchten Unterstützung. „Fragen der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit müssen wir in viel größerem Umfang berücksichtigen.“


Da ist die Frage nach dem Geld, die die EU-Staats- und Regierungschefs gestern erwartungsgemäß nicht beantworteten. Die Agenda für wirtschaftliche Sicherheit, die dem Kommissar vorschwebt, „braucht noch einen echten finanziellen Arm“.


Die Kommission hat den Investitionsbedarf für die doppelte Transformation in eine grüne und digitale Wirtschaft bis 2030 mit 650 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. „Auch wenn der Großteil dieser Investitionen durch private Gelder finanziert werden sollte, werden in vielen Fällen weiterhin öffentliche Mittel erforderlich sein, um das Risiko von Projekten zu verringern, unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken und endgültige Investitionsentscheidungen zu beschleunigen“, sagte Breton.


Er wirbt für ein Paket, einiges eher unkontrovers, manches ohne rechte Chance auf Verwirklichung – heute zählt Breton auf: innovativere Finanzinstrumente, eine größere Rolle für die Europäische Investitionsbank auch in der Finanzierung von Rüstungsprojekten: „Kurzum, ein echter, ständiger Europäischer Souveränitätsfonds mit der Interventionskapazität und der Finanzkraft, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer europäischen Industrie zu erhalten.“

Fast übersehen

5.

Tüte > Zigarette: Wird in Deutschland bald das Rauchen verboten? Eher unwahrscheinlich, hat die Regierung doch Kiffen gerade legalisiert. Burkhard Blienert (SPD), der Drogenbeauftragte der Bundesregierung, hat sich dennoch diesen unbestreitbar eigenwilligen Zeitpunkt ausgesucht, um sich für ein entschiedeneres Vorgehen gegen Tabakkonsum auszusprechen.


Ernsthaftere Debatte: „Wir haben massiven Handlungsbedarf. Jedes Jahr sterben auch in Deutschland 127 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Das darf so nicht bleiben“, sagte Blienert der Bild. „An der Ernsthaftigkeit, mit der das Thema Rauchen in anderen Ländern angegangen wird, können wir uns ein Beispiel nehmen.“ Die britische Regierung will den Kauf von Tabak für alle, die nach dem 1. Januar 2009 geboren wurden, illegal machen.


Zur Einstiegsfrage: „Ich glaube, erwachsene Menschen können selber entscheiden, was sie konsumieren wollen und was sie nicht konsumieren wollen“, sagte Justizminister Marco Buschmann (FDP). Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zeigte sich skeptisch.

6.

Alle gegen Faeser? Im Streit um das Quick-Freeze-Verfahren versucht nun die Opposition, die Aufmerksamkeit auf Innenministerin Nancy Faeser zu lenken. Alexander Hoffmann (CSU) hatte die Regierung gefragt, wann Kanzler Olaf Scholz Faeser über seine Einigung mit Justizminister Marco Buschmann informiert habe.


Was kümmert es den Kanzler: Die Antwort des Kanzleramts, die SZ Dossier vorliegt, beantwortet die Fragen nicht, schreibt Gabriel Rinaldi. Stattdessen verweist Staatsministerin Sarah Ryglewski auf den „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung der Bundesregierung“. Heißt: Wenn sich die Regierung intern eine Meinung bildet, hat es das Parlament im Sinne der Gewaltenteilung erst einmal nicht zu interessieren.


Keine Antwort ist auch eine Antwort, sagt die Union. Wenn Scholz Faeser beteiligt hätte, müsse man sich ja nicht hinter derlei Prärogativen verstecken, um keine Antwort zu geben. „Damit zementiert sich der Eindruck, dass die Bundesinnenministerin vom eigenen Kanzler übergangen worden ist“, sagte Hoffmann. Dafür spreche auch, dass die Antwort der Bundesregierung nicht von einem Fachressort übermittelt worden sei, sondern vom Kanzleramt selbst.

7.

Geburt eines Gremiums: Heute tagt in Potsdam erstmals die Digitalministerkonferenz (DMK). Sie wurde im vergangenen Jahr erst erfunden – bislang trafen sich die Länder ohne den Bund. Und so rüttelt sich ein neues Format zurecht. Unter den ersten Mitgliedern der DMK befinden sich Innen-, Wirtschafts-, Wissenschaftsminister, berichtet Matthias Punz vom Dossier Digitalwende.


Das ist eine der Herausforderungen: Digitalisierung ist Querschnittsmaterie, richtige Digitalministerien gibt es wenige – die Mitglieder kommen aus unterschiedlichen Fachbereichen. Zudem sind nicht alle im Rang einer Ministerin oder eines Ministers, was Verhandlungen, von wegen Prokura, schwieriger macht. Der Bund ist wie bei Fachministerkonferenzen üblich als Gast in Person von Digitalminister Volker Wissing (FDP) mit dabei. Stimmrecht hat er keines.


Auch die anderen Fachministerkonferenzen beraten mittlerweile viel Digitales – ein Querschnittsthema eben. Die DMK will nicht Zuständigkeiten anderer infrage stellen. Sie werde zudem keine Beschlüsse zu Vorlagen fassen, die sich bereits im Bundesrat oder einem seiner Ausschüsse befinden, heißt es in der Geschäftsordnung, die heute beschlossen werden soll und SZ Dossier vorliegt. (Vom Bundestag ist keine Rede).


Willkommensgeschenk: Der IT-Planungsrat (das ist das Bund-Länder-Gremium für digitale Verwaltung) streitet seit Monaten über eine digitale Dachmarke für die Länder – und einige dort würden das leidige Thema gern direkt an die Minister weiterreichen.

8.

Vorschläge zum Kampf gegen Desinformation: In Hinblick auf Desinformation fehle es an einem „systematischen Ansatz, der Zuständigkeiten definiert und die gesellschaftliche Resilienz kontinuierlich ausbaut“, heißt es in einer neuen Analyse. Die Bundesregierung könne hierbei eine zentrale Rolle einnehmen, unter anderem, indem sie „personelle und finanzielle Ressourcen bereitstellt“.


Mehr System, bitte: Nicht weniger als 25 Vorschläge zum besseren Kampf gegen Informationsmanipulation kommen vom Thinktank Institute for Strategic Dialogue (ISD). Heute veröffentlicht er eine Analyse zum Problem, die sich Laurenz Gehrke vorab näher angesehen hat.


Nächster Schritt: So heißt es etwa, Deutschland befinde sich in einem Systemwettbewerb mit autoritären Staaten, „die einen digitalen Autoritarismus vorantreiben“. Das habe die Regierung zwar erkannt – die Autoren empfehlen darüber hinaus aber die „Beteiligung an internationalen Standards und Initiativen gegen Informationsmanipulation“ auszuweiten: und von der Erkenntnis zum Handeln zu schreiten.

Zitat des Tages

Deutschland ist ein Tummelplatz für ausländische Geheimdienste. Sie schüchtern politische Geflüchtete ein, versuchen sie gar zu ermorden, und greifen unsere Infrastruktur und unsere Demokratie an. Das gehört nach ganz oben auf die politische Tagesordnung.

Frank Schwabe (SPD) auf X zum neuen Fall mutmaßlicher russischer Spionage

Deutschland in Daten

Osten und Westen blicken unterschiedlich auf EU
in Kooperation mitStatista

Zu guter Letzt

Ich laufe in Berlin relativ häufig Menschen in die Arme, die auch zeitweise in Brüssel gearbeitet haben. Im Vergleich zum gesamten Berliner Betrieb ist die Zahl der Erleuchteten, die nachts um drei noch wissen, was den Europäischen Rat vom Rat der EU unterscheidet und was beide vom Europarat unterscheidet, dennoch überschaubar. Und keine Weltläufigkeit hindert die Hauptstadt im Allgemeinen daran, sich für das bedeutendste Zentrum politischer Handwerkskunst zu halten.


Die Europäische Bewegung Deutschland hat dennoch unerschütterliche Hoffnung, dass es, wenigstens zunehmend, zu einer Europäisierung der Bundespolitik kommen könnte. Sie pflegt ein Netzwerk von Brüssel-Alumni in Berlin: Wer sich angesprochen fühlt und hier anmeldet, bekommt womöglich bald einmal Post und eine Einladung zu einer Veranstaltung mit uns vom Dossier.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin