Wie der EU-Beitritt der Ukraine zu finanzieren wäre
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 22. März 2024
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf:

Vom Ende der Tüte her gedacht +++ Worauf Kyiv achtet +++ Von wegen deren Krieg +++ Migrationsängste +++ Gefahr in der Hosentasche +++ God dag Nato, hej Berlin



EU-Kompromiss zum Nahen Osten: Die Staats- und Regierungschefs der EU fordern eine „sofortige humanitäre Pause, die zu einem dauerhaften Waffenstillstand führt“, sagte Charles Michel, ihr Moderator als Präsident des Europäischen Rates, am Abend in Brüssel.


Verbatim: „Der uneingeschränkte und sichere Zugang für humanitäre Hilfe nach Gaza ist von entscheidender Bedeutung, um die Zivilbevölkerung in einer katastrophalen Situation in Gaza mit lebensrettender Hilfe zu versorgen“, sagte Michel.


Nabelschau: Eine Waffenruhe würde es der EU zudem ermöglichen, die tiefen Differenzen ihrer Mitglieder in der Nahostpolitik hinter gerade noch gemeinsamer Sprache zu verbergen. Ein Angriff Israels auf Rafah und die Balance ist perdu.


Guten Morgen. Nur noch eineinhalb Jahre Ampel. Und dann weitere fünf unter Olaf Scholz, so gehen die Träume der Sozialdemokratie. Und so wenig wie manche maßgebende Parteifreunde dem Kanzler und seinem Trupp einen Gebrauchtwagen abkaufen würden, geben sie doch zu: Machtinstinkt hat er.


Ob es nicht dennoch früh ist für die Gewissheit eines führenden Sozialdemokraten, die Union habe mit ihrer Haltung zur Ukrainehilfe gerade die nächste Bundestagswahl verloren, man selber werde sie daher gewinnen? Der Wahlkampf hat begonnen. Wie lang er dauert, liegt bei den Parteien der heutigen Koalition.


Tanzverbot: Kommende Woche, am Karfreitag, pausiert der Platz der Republik. Am 5. April sind wir zurück in Ihrem Postfach.


Live und in Farbe: Wer heute auch schon so früh auf ist, ich bin gleich im ZDF-Morgenmagazin zur Presseschau verabredet, wie immer zwischen halb acht und acht.


Was wichtig wird

1.

Vom Ende der Tüte her gedacht

Selten waren sich die Koalitionspartner bei einem Gesetzesvorhaben so einig wie beim Cannabisgesetz. Selten haben sie so wenig Rücksicht auf die Länder genommen wie beim Cannabisgesetz, und so zittern sie der heutigen Sitzung des Bundesrats entgegen, wo das Prestigeprojekt der Ampel auf der Tagesordnung steht.


Neues von den Klempnern der Macht: Ja, gibt eine Sache, auf die die Ampel sich verständigen konnte, Kiffen soll ab dem 1. April legal werden. Es muss ein echtes handwerkliches Meisterstück geworden sein, wenn die Bundesregierung hofft, es mit dem Versprechen, via Protokollerklärung, durch die Länderkammer zu bekommen, dass es sofort, vor dem 1. Juli, „bundesrechtlich sicher“ mehrfache Änderungen geben werde.


Böser Verdacht: Die Länder können das Gesetz nicht verhindern, es aber in den Vermittlungsausschuss schicken. Der 1. April wäre Geschichte. Cannabisminister Karl Lauterbach, der gestern Abend am Kamin der SPD-Länder für sein Prestigeprojekt warb, befürchtet dessen Tod durch Ausbremsen bis Ende der Legislatur; Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hatte das so offenherzig angekündigt.


Ob Ihr wirklich richtig steht… „Ein Gesetz, das in den Vermittlungsausschuss kommt, kommt da auch wieder raus“, sagte Manuela Schwesig (SPD) gestern Journalisten, Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin und amtierende Bundesratspräsidentin.


Sie hielt sich bis zuletzt eine Anrufung des Vermittlungsausschusses offen, sie machte das von Zusicherungen abhängig. Dazu gehöre, verbindlich zu erklären, „diese Kritikpunkte im Gesetz zu heilen“. Auch aus anderen SPD-geführten Ländern wurde eine Amnestieregelung kritisiert, die „eigentlich nicht zu handhaben“ sei. Justizminister Marco Buschmann (FDP) habe sich zu wenig für damit verbundene Herausforderungen für die Justiz interessiert.


Heilung naht: Die Bundesregierung verschickte also eine vierseitige Interpretationshilfe, um solch unerhörter Widerborstigkeit zu begegnen, und kündigte mehrere Änderungen an. Länder müssten Cannabis-Clubs weniger oft kontrollieren, bekämen mehr Unterstützung bei Prävention. Großplantagen durch Zusammenlegung mehrerer Clubs soll es auch nicht geben dürfen.


So schaut’s aus: Gestern noch sagten Vertreter, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland seien sicher für den Einspruch; Thüringen und Bremen dagegen, der Rest unentschlossen. Der Vertreter eines CDU-Landes sagte gestern Abend, man gehe davon aus, dass der Vermittlungsausschuss angerufen werde. In mehreren Ländern deutete sich am Abend eine Enthaltung an, gern genommen, wenn sich die Koalitionspartner im Land uneins sind. Abgelehnt wäre in diesem Fall der Einspruch, die Ampel hätte ihr Cannabisgesetz.


Die Hoffnung der Freunde einer gepflegten Tüte: dass „die Grünen stehen“.


…seht Ihr, wenn das Licht angeht: Heute ab 9:30 Uhr.

2.

Worauf Kyiv achtet

Wenn die Ukraine bloß westliche Wortspenden bräuchte, um sich zu verteidigen, der Feind wäre längst geschlagen. Allein auf dem EU-Gipfel gab es gestern reichlich. Sie reichten Präsident Wolodimir Selenskij nicht, sagte er den versammelten Staats- und Regierungschefs laut einer Abschrift seiner Videobotschaft.


Er packte sie an der Ehre: „Leider ist der Einsatz von Artillerie an der Front durch unsere Soldaten eine Demütigung für Europa in dem Sinne, dass Europa mehr leisten kann. Und es ist wichtig, dies jetzt zu beweisen“, sagte er. „Die gesamte Luftabwehr, die der Ukraine insbesondere von europäischen Ländern zur Verfügung gestellt wird, hält unsere Städte und Dörfer am Leben.“ Aber „die vorhandenen Luftabwehrsysteme reichen nicht aus, um unser gesamtes Territorium vor dem russischen Terror zu schützen.“


Drei Beobachtungen, die zur Lageeinschätzung besser geeignet sind als warme Worte.


Er ist doch der Kanzler! Und er findet die Debatte also peinlich und lächerlich. Scholz’ jüngster Versuch, die Diskussion in Deutschland zu beenden, der zweite innerhalb weniger Wochen, fruchtete nicht bei den Freunden der Ukraine, weder in der Opposition noch der Regierung. Wenig ist so lächerlich wie ein Machtwort, das verhallt, wie ein Richtlinienanspruch, der vom Koalitionspartner öffentlich weggewischt wird: wie ein nackter Kaiser.


Ablenkungsdebatte: Was dem Kanzler und der SPD allerdings sehr gut gelang, unter tätiger Mithilfe der Union, war die Verlagerung der Debatte darüber, „wie wir die Ukraine noch besser unterstützen werden“, wie Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sagte, ins Klamaukhafte: indem sie tun, als seien Indiskretionen aus dem Verteidigungsausschuss die eigentliche Frage und die Lieferung des Marschflugkörpers Taurus das entscheidende Problem für Kyiv und nicht der schließlich in Friedenswissenschaften ausgebildete Rolf Mützenich.


Kann sich die Ukraine auf Deutschland verlassen? Die Bundesregierung tut viel, vielleicht nicht genug, aber das gälte dann ebenso für alle anderen. Wie lange? Solange der SPD nicht die Gelegenheit winkt, Friedrich Merz dem Wahlvolk als einen darzustellen, der Deutschland in den Krieg verwickeln werde, und wenn auch nur aus außenpolitischer Tollpatschigkeit. Und so lange sie im Kanzleramt nicht laut sagen, was leise längst zu hören ist: dass es „deren Krieg“ sei, nicht unserer.

3.

Von wegen deren Krieg

Als Hillary Clinton 2016 gegen Donald Trump verlor, ging dem eine Hack-and-Leak-Kampagne voraus: E-Mail-Konten wurden gehackt und tausende Mails veröffentlicht, die Clinton sehr schadeten. Der deutsche Verfassungsschutz macht den russischen Staat für diesen Angriff verantwortlich und warnt, das könne in diesem Wahljahr auch Deutschland passieren.


Russische Hacker: Vor wenigen Wochen haben das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) eine Warnung an Wahlleitungen geschickt. Das Dokument mit dem Titel „Gefahr von möglichen Hack-and-Leak-Operationen im Wahljahr 2024“ liegt uns vor. Meine Kollegin Selina Bettendorf berichtete im Dossier Digitalwende (hier testen.)


BfV und BSI schreiben: „Hack-and-Leak-Operationen stellen eine ernsthafte Gefahr für demokratische Wahlen dar.“ Sie warnen vor staatlich gesteuerten Kampagnen und speziell einer Gruppe, die dem russischen Militärgeheimdienst GRU zugeordnet wird. Die Gruppe mit dem Namen „APT28“ gehört laut BSI und BfV „zu den höchstentwickelten und gefährlichsten Gruppierungen weltweit“. Sie waren es auch, die 2015 den Bundestag angegriffen haben sollen, 2016 die US-Präsidentschaftswahl und 2017 die Präsidentschaftswahlen in Frankreich.


Putin lässt phishen gehen: Im Wahljahr 2024 seien DDoS-Angriffe, Cyber-Spionage, Webseiten-Defacements und Desinformationskampagnen nicht auszuschließen, warnen die deutschen Behörden. Und: „Selbst, wenn diese beschriebenen Angriffe ausbleiben sollten, sind vorbereitende Handlungen zu erwarten, darunter Versuche, Zugriff auf Social-Media- und E-Mail-Konten zu erlangen.“


Schützen könne man sich vor allem mit IT-Sicherheitsschulungen. Politikerinnen und Politiker sollten ihre Kommunikationskanäle absichern, und ein Pressestatement für den Fall, dass sie Opfer einer Hack-and-Leak-Kampagne werden, besser schon in der Schublade haben. Abgeordnete, die befürchten, angegriffen zu werden, können sich an den Verfassungsschutz wenden.


Nota bene: Appeasement ist nicht unter den Ratschlägen der Verfassungsschützer.

4.

Migrationsängste

Von der „Freiheit zu bleiben“ wird in Enrico Lettas Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarktes viel die Rede sein, sagte mir der ehemalige italienische Premierminister diese Woche bei seinem Besuch in Berlin. „Ich habe begonnen, an dieser Provokation zu arbeiten: die Freizügigkeit in der EU muss auch die Freiheit beinhalten, zu bleiben oder zurückzukehren.“


Gegen den Braindrain: Migration ist eines der bestimmenden Themen für EU-Bürgerinnen und Bürger vor der Europawahl. Dass irreguläre Immigration das größte Problem sei, sagen laut einer Umfrage des Thinktanks ECFR aber mehrheitlich nur Befragte in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Anderswo ist es in größerem Maß die Aus- und Abwanderung der Jungen.


Unromantisch auswandern: Das gilt sogar insbesondere für Länder an den EU-Außengrenzen und solche, die sich für eine strikte Einwanderungspolitik stark machen. In Rumänien sehen sich 14 Prozent von Einwanderung besonders betroffen, gegenüber 65 Prozent, die von Auswanderung (oder beidem gleichermaßen) betroffen sind. In Italien, Spanien, Ungarn und Griechenland ist das Bild ein ähnliches:

Was Europa vor den Wahlen wirklich bewegt

Spirale abwärts: „Die Abwanderung haben wir bisher etwas oberflächlich behandelt. In einigen Regionen – etwa Rumänien, in Bulgarien, in Süditalien – geht es nicht mehr um Braindrain, sondern um echte Abwanderung, ein One-Way-Ticket“, sagte Letta. Das ist ein Teufelskreis: „Wenn Regionen Menschen verlieren, wird die öffentliche Hand immer schwächer. Das gilt für das Gesundheits- und Bildungswesen wie für die Verwaltung. Infolgedessen wird die Kluft zwischen den Regionen, auch wirtschaftlich, weiter wachsen.“


Mehr von Letta gleich – und hier, was die SZ-Kollegen Jonas Junack und Florian Kappelsberger Feines aus der ECFR-Umfrage gemacht haben.

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Tiefgang

Wie der EU-Beitritt der Ukraine zu finanzieren wäre

Enrico Letta bekam eine Aufgabe und machte eine Mission daraus: Sein für April erwarteter Bericht zur Zukunft des europäischen Binnenmarktes wird sich nicht auf die Forderung beschränken, hie und da ein paar zwischenstaatliche Hürden abzubauen. Er arbeitet an einem Vorschlag zur Finanzierung eines Beitritts der Ukraine zur EU, besprochen werden soll das Ergebnis dann bei einem Europäischen Rat im April.


Seine wichtigste Erkenntnis: „Wir werden nicht einfach sagen können, dass wir erstens grüne und digitale Transformation, dass wir zweitens gemeinsame Verteidigung und drittens die Erweiterung wollen… Wir wollen diese drei Bereiche, wir wissen, dass sie viel kosten – aber wir sagen nicht, woher wir das Geld nehmen sollen“, sagte er. „Das wird nicht gehen.“ Die Sache so anzugehen, „wird überall dem Populismus Vorschub leisten“, sagte Letta.


„Wir machen einen großen Fehler“, sagte Letta. „Die Botschaft zu vermitteln, dass die nächste EU-Erweiterungsrunde viel kosten wird, und dass dies durch die derzeitige Kohäsions- und Agrarpolitik bezahlt werden wird. Diese Botschaft ist gefährlich. Zunächst einmal kann sie nicht wahr sein: Wir müssen neues Geld finden. Zweitens, wenn wir uns auf diese entweder-oder-Logik einlassen, machen wir die Erweiterung sehr unbeliebt.“


Der Sozialdemokrat, heute Präsident des Jacques-Delors-Instituts, spricht an, wovor sich die Politik bislang drückt bis hin zur EU-Kommission, die diese Woche einen Reformplan vorlegte. Zur Frage, die Letta umtreibt, sagte sie aber bloß: „Die Erweiterung wird eine gründliche Bewertung der langfristigen Effekte auf die Nachhaltigkeit der Agrarpolitik in einer EU 30+ erfordern.“ So so.


Gut 30 Prozent des EU-Haushalts gehen an die Landwirtschaft, ein weiteres Drittel soll für eine Annäherung der Lebensverhältnisse in den EU-Ländern sorgen. Mit einem Beitritt der Ukraine müssten beide Budgets enorm erhöht werden, wenn nicht alle anderen radikal weniger bekommen sollen – die Bauernproteste, die gestern wieder den Brüsseler Gipfel begleiteten, finden auch angesichts dieser Szenarien statt.


„Ich werde in meinem Bericht die Staats- und Regierungschefs der EU auffordern, eine Antwort auf diese Frage zu geben“, sagte Letta im Interview. „Andernfalls würde die Erweiterung völlig unpopulär.“


Mario Draghi, der auch gerade an einem Bericht – über die Wettbewerbsfähigkeit der EU – sitzt, „wird in seinem Bericht dasselbe tun“, sagte Letta. Die beiden italienischen Ex-Premiers sind im Austausch zu ihren Ideen. „Ich werde meinen Bericht als ein Instrument ausarbeiten, das Draghi nutzen kann“, sagte Letta – in einer Vorahnung, dass Draghis Werk diesen Sommer mit einem Doppelwumms, wie man in Berlin ja sagt, daherkommen wird, schließlich ist die Überzeugung einigermaßen weit verbreitet, der Mann habe erst Europa, dann Italien gerettet.


Letta ist in den vergangenen Monaten im Auftrag der Regierungschefs durch Europa gereist. Im April wird er ihnen sein Werk präsentieren. Diese Woche war er erneut in Berlin und konferierte mit dem Kanzler, sprach beim BDI, fuhr weiter nach Frankfurt zur Deutschen Börse – ein Teil der Reise, die ihn seit Sommer in 54 Städte führte.


Die Kernidee: eine zweite Auflage des derzeitigen EU-Sonder-Aufbaufonds. „Wir können es mit den derzeitigen Mitteln nicht schaffen. Es ist unmöglich, das ohne neue Ressourcen zu schaffen“, sagte er. „Next Generation EU ist ein fantastischer Erfolg. Zwei Anpassungen für eine zukünftige Investitionsphase schlage ich vor. Erstens: Wenn wir öffentliche Gelder einsetzen, müssen wir immer darüber nachdenken, wie wir sie mit privaten Geldern ergänzen können. Zweitens, grenzüberschreitende Projekte.“


Ohne privates Kapital „glaube ich nicht, dass die Sparsamen dem Europäischen Rat erlauben werden, Entscheidungen über neue öffentliche Gelder zu treffen“, sagte Letta. „Auch bei vielen Besuchen in Deutschland hatte ich das Gefühl, dass es keinen Platz für ein neues Next-Generation-EU-Programm in seiner heutigen Form gibt.“


Die Idee erinnert an eine Investitionsoffensive der EU ab 2015, nach dem damaligen Kommissionspräsidenten Juncker-Plan genannt, der die Idee in das bis dahin brave und vorsichtige Investitionsgebaren der EU einbrachte, Steuergeld mit privaten Investitionen vielfach zu hebeln. Die neue Qualität in Lettas Plan: den Finanzmarkt in der EU endlich zu einem EU-Finanzmarkt zu machen.


„Das ist ein potenzieller Schatz“, sagte er. „Ein kleiner, ineffektiver EU-Finanzmarkt bedeutet, dass viel Geld der EU-Sparer in die USA fließt und über privates Beteiligungskapital amerikanische Unternehmen speist, die nach Europa zurückkehren, um europäische Unternehmen zu kaufen. Genau das ist der Fall.“


Drei Wirtschaftsbereiche wurden zu Beginn des Binnenmarktes ausgeklammert: Telekommunikation, Finanzen und Energie. „Damals wurde beschlossen, sie auf nationaler Ebene zu belassen“, sagte Letta. „Es ist kein Zufall, dass wir in diesen drei Bereichen weniger wettbewerbsfähig sind als die USA. Sie sind zu einem großen Hindernis für das Wachstum geworden.“


Was damals galt, gilt freilich noch immer, und damit sind die Begrenzungen von Lettas Spielraum auch von ihm selbst beschrieben: „Eine Börse, eine Aufsichtsbehörde zu haben oder einen etablierten Telekommunikationsanbieter, ist für manche Länder wichtiger als auf europäischer Ebene wettbewerbsfähig zu sein.“


Kleine Länder sind gern der Meinung, Skalierung verschaffe nur den großen einen Vorteil. Letta versucht es so: „Wenn wir etwas zusammen machen, dann fügen wir viele Eier zu einem Omelett zusammen, und es ist nicht mehr zu erkennen, wer sie mitbrachte. Aber wichtig ist dann die Frage nach der Größe des fertigen Omeletts.“


Warum die EU-Länder, speziell sowohl die kleinen als auch die sparsamen, umdenken sollten? Letta holte sich Rat bei einem Mann, dessen Name in der EU noch klangvoller ist als die Draghis und Junckers zusammen. Als er den Auftrag bekam, „bat ich Jacques Delors sofort um ein Treffen. Er empfing mich in Paris, und er schlug vor: Beginnen Sie die Arbeit mit der Geopolitik.“


Im ungeklärten Verhältnis der EU-Länder zu China, in der Unsicherheit über den künftigen Kurs der USA und in Russlands Krieg auf europäischem Boden sollen die Europäer Kleinstaaterei überwinden, so die Hoffnung. Delors verstarb Ende Dezember. Letta gab er noch den Rat, eine Verbindung zwischen der geopolitischen Lage und dem Überleben der Freiheiten des Binnenmarktes zu schaffen. „Das ist nicht selbstverständlich“, sagte Letta. „Aber genau das versuche ich zu tun.“

Fast übersehen

5.

Gefahr in der Hosentasche: Estlands Premierministerin Kaja Kallas konnte diese Woche im Geiste partnerschaftlicher Beratungen in Berlin von einem Problem mit russischer Desinformation und Lösungsansätzen berichten: Nach negativen Erfahrungen mit Moskau hat ihr Land massiv aufgerüstet. Die Gefahr lauere in unseren Hosentaschen, sagte Kallas. „Angst ist ein Mittel, das der Kreml einsetzt, um demokratische Führer und Gesellschaften davon abzuhalten, die Ukraine zu unterstützen. Desinformation und Beeinflussungsmaßnahmen sind weitere“, sagte sie.


Lagebild: Ob es um französische Bettwanzen geht oder Wahlbeeinflussung – Russland und China versuchen gezielt, durch Desinformation in sozialen Netzwerken die öffentliche Meinung und politische Entscheidungen zu manipulieren. Als Teil der hybriden Kriegsführung nutzt Russland diese Werkzeuge, um seine Interessen durchzusetzen. Die Bettwanzen sind ein kleiner Vorgeschmack dafür, was uns vor den Europawahlen noch erwarten könnte – schlichtes Abhören schlampig gesicherter Gespräche ist nicht gemeint.


Fruchtbare Böden: „Die Kreml-Trolle sind vielleicht nicht die klügsten, aber man sollte sie nicht unterschätzen, denn ihre systematische Arbeit fällt in unserer eigenen polarisierten politischen Debatte oft auf fruchtbaren Boden“, sagte Kallas. Sie war in Berlin, traf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, nahm den Walther-Rathenau-Preis entgegen – um Desinformation ging es in ihrer Dankesrede.


Smarte Nation, smarte Menschen? „Wir mögen eine digital fortschrittliche Nation sein, die sich rasch neue Technologien zu eigen macht, aber die wichtigste Komponente verschiedener smarter Lösungen ist die Anwesenheit smarter Menschen, die sie nutzen“, sagte Kallas. Deshalb könne man die Bedeutung von Medien- und Informationskompetenz in der heutigen Welt gar nicht hoch genug einschätzen. „Je früher wir damit beginnen, sie unseren Kindern systematisch beizubringen, desto sicherer wird die Gesellschaft sein, in der wir in Zukunft leben werden“, sagte Kallas.

6.

God dag Nato, hej Berlin: Nicht nur Kaja Kallas stromerte diese Woche samt Kolonne kreuz und quer durch das Regierungsviertel, auch der schwedische Außenminister Tobias Billström war zu Besuch und traf gestern unter anderem Annalena Baerbock. An der Hertie School legte er Studierenden Schwedens Pläne dar.


Coming home: Schweden begrüße die „Investitionen Deutschlands in eine stärkere Verteidigung“ und Berlins „umfangreiche Unterstützung“ für die Ukraine. Ein hohes deutsches Anspruchsniveau in all diesen Bereichen sei wichtig für Schweden und ganz Europa sowie für die transatlantischen Beziehungen, sagte Billström. Schweden habe vor zwei Wochen mit der Nato-Mitgliedschaft seine eigene Zeitenwende vollzogen. „Wir sind nach Hause gekommen.“


Handlungsfähgkeit, egal, wer im Weißen Haus sitzt: „Ich bin Schwede, wir denken, dass man seine Rechnungen bezahlen sollte, und zwar pünktlich und nicht säumig werden“, sagte Billström. Stockholm werde sich daher dafür einsetzen, dass alle Länder das 2-Prozent-Ziel erfüllen. „Wenn wir uns auf diese langfristige Konfrontation mit Russland vorbereiten, von der wir glauben, dass sie bevorsteht, müssen wir auch unsere Arbeit tun.“


Schwedischer Humor: Ungarn ratifizierte Schwedens Mitgliedschaft erst nach einem Rüstungsgeschäft. Die Nato sei „wirklich eine wunderbare Organisation“, sagte der Minister. „Für Beitritt werden wir sogar von ihren Mitgliedern bezahlt.“

Zitat des Tages

Weil das Wort ‚Einfrieren’ signalisiert, man könne einen solchen Krieg – und wir reden hier nicht über einen beidseitigen Konflikt – einfach so einfrieren und dann hoffen, dass es besser wird … War in der Vergangenheit nicht so, war zuletzt nicht so und wird auch in Zukunft nicht so sein.

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), demnach nicht in „Friedenswissenschaften“ ausgebildet, auf die Frage, warum er sich das Wort „Einfrieren“ nicht zu eigen macht.

Zu guter Letzt

Heute vor vier Jahren trat der erste Lockdown in Deutschland in Kraft, Schülerinnen und Schüler wurden vom einen auf den anderen Tag nach Hause geschickt. Schulen waren auf die Situation schlecht vorbereitet, digitale Werkzeuge fehlten. Heute ist die Situation anders, Digitalisierung sei „selbstverständlich“ geworden, sagte Florian Fabricius, Deutschlands oberster Schülervertreter, im Interview mit meinem Kollegen Matthias Punz.


Doch Technik allein mache noch keine gute Schule aus. Vor allem bei der Hardware und Infrastruktur habe sich etwas getan, sagte Fabricius. In den Schulen gebe es nun meist WLAN, Glasfaser und Whiteboards. „Leider geht es aber immer noch um die Digitalisierung bestehender Lernabläufe, das hat sich nicht verändert.“ Sprich: „Man ersetzt die Tafel durch ein Whiteboard und behandelt das Whiteboard wie eine Tafel.“


„In alten Muster zu verbleiben, ist immer der gemütlichere Weg“, sagte Fabricius. In Deutschland fehle der Fortbildungsdruck für Lehrkräfte. „Aus unserer Sicht müsste das regelmäßig und auch verpflichtend passieren.“ Es gebe zwar viele innovative Lehrkräfte, die etwa selbst Videos schneiden und sie zur Verfügung stellen. „Aber viele haben sich nach Corona auch gefreut, wieder ihre alten Lernblätter rauszuholen.“


Pisa-Vorreiter seien übrigens die Länder, „in denen sich Lehrkräfte kontinuierlich fortbilden lassen müssen“.


Danke an die Kolleginnen und Kollegen Selina Bettendorf, Georg Ismar und Matthias Punz – und an Corinna Melville in Adelaide fürs Redigieren.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin