Warum die Ukraine von Deutschland den Taurus will? Nicht als Wunderwaffe, um den Krieg zu drehen, wie es SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich erst diese Woche wieder unterstellte, sichtbar genervt von Erwartungen, die seiner Partei als Zumutungen gelten. Sondern, um sich Zeit zu verschaffen, Zeit zum Überleben, bis die Mangellage an Artilleriemunition sich bessert.
„Diese Raketen sind nicht nur für die Offensive gut, das ist ein Irrglaube“, sagte der ukrainische Militärexperte Mykola Bielieskov über die Taurus-Marschflugkörper. „Sie sind auch gut für die Verteidigung. Wenn man dem industriell-militärischen Komplex der Ukraine und Europas mehr Zeit geben will, Munition zu produzieren, ist das die beste asymmetrische Lösung.“
Um den Druck auf die Front zu verringern, „können wir mit diesen Raketen einige wichtige Kommando- und Kontrollposten und Lagerhäuser treffen“, sagte Bielieskov: Nachschubwege, Stellungen, Material hinter der Front. „Russlands Achillessehne ist die Krim. Wir können Druck ausüben, das russische Militär kann auf der Krim unterminiert werden.“
Militärisch ist die Lage angespannt. Politisch ist sie vor dem zweiten Jahrestag des jüngsten russischen Überfalls heikel.
Im Land bestehe Konsens: Zum einen, „dass wir kämpfen müssen und nicht auf Kosten unseres Volkes einen Waffenstillstand vereinbaren dürfen“, sagte Bielieskov. Zum anderen, dass der Westen der Ukraine in ihrer Verteidigung helfen solle. „Leider ist das außerhalb nicht überall der Fall, insbesondere in den USA. Aber jede Infragestellung hat Auswirkungen auf den innenpolitischen Konsens und konkret auch auf die Mobilisierung.“
Das wiederum dient interessierten Kreisen als Argument dafür, die Führung zu einem Waffenstillstand zu drängen. „Es ist viel schwieriger, als es 2022 und 2023 war“, sagte Bielieskov.
(Zu dieser Frage und auch sonst sehenswert: die Doku „10 Jahre Krieg – Wie die Ukraine für die Freiheit kämpft“ von Vassili Golod aus Kyiv, in der ARD-Mediathek.)
Taurus-Raketen würden dem angegriffenen Land Zeit verschaffen. Das ukrainische Militär leidet vor allem unter Munitionsmangel. „Wir sind benachteiligt, der Begriff ‚Granatenhunger‘ wird ganz offiziell genutzt“, sagte Bielieskov diese Woche bei einem Besuch in unserer Berliner Redaktion. Zwar werden „in großem Umfang“ auch Drohnen eingesetzt. „Aber ich möchte nicht, dass das Militär testen muss, die Frontlinie nur mit Kamikaze-Drohnen zu halten. Es besteht also ein ständiger Bedarf an Geschossen. Es ist immer noch ein Artilleriekrieg.“
Erklärt am Beispiel des Falls der kleinen Stadt Awdijiwka: „Wenn der Granatenmmangel groß ist, ist Russland in der Lage, auf Kompanie- und Bataillonsebene zu operieren“, also schneller mit mehr Mann vorzurücken. Unter Beschuss ist der Angreifer auf eine Taktik kleiner Gruppen angewiesen. „Es hätte länger gedauert bis zu einem Rückzug unsererseits, es hätte größere Verlusten an Männern und Ausrüstung auf russischer Seite gegeben, wenn wir in Awdijiwka mehr Artilleriegranaten gehabt hätten“, sagte er. „Ich hoffe, das ist eine Warnung.“
Hat US-Präsident Joe Biden recht, wenn er sagt, ohne die Blockade der Militärhilfen im Kongress wäre Awdijiwka vielleicht noch unter ukrainischer Kontrolle? „Ich stimme mit seiner Einschätzung überein. Auf jeden Fall“, sagte Bielieskov, einer der renommiertesten Militärexperten der Ukraine. Er berät als Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Strategische Studien in Kyiv die Regierung und ist leitender Analyst bei Come Back Alive, einer NGO. „Die Ukraine bräuchte 3000 bis 4000 Granaten pro Tag. Und wir haben bestenfalls 1500 bis 2000.“
Es wird dauern, bis sich das einen Ausbau der Produktion in der Ukraine selbst, durch Hochfahren der Kapazitäten in Europa, ändert. Ein Großeinkauf bei US-Rüstungsunternehmen könnte eine rasche Lösung bieten.
„Ich nehme wahr, dass nicht alle Europäer dazu bereit sind: Wenn sie Geld in die Hand nehmen, wollen sie es für die eigene Produktion ausgeben, anstatt die US-Industrie zu subventionieren“, sagte Bielieskov. „Dabei wäre selbst Trump bereit, im Interesse der Ukraine Waffen und Munition zu verkaufen, wenn es harte Währung dafür gibt.“
Tatsächlich belastet der Streit derzeit Verhandlungen über gemeinsame europäische Beschaffung – Deutschland hält sie auf, weil die Bundesregierung die eigenen, massiven bilateralen Hilfen angemessen berücksichtigt haben will, Frankreich besteht darauf, die Europäische Friedensfazilität müsse allein oder wenigstens vor allem auf dem Heimatmarkt einkaufen.
„Es wäre eine gute Gelegenheit für Deutschland, Führungsstärke zu zeigen“, sagte Bielieskov. „Während des Krieges gab es Gelegenheiten dazu, sie wurden vertan. Hoffentlich nutzt Deutschland seine Überzeugungskraft.“