Über den Umgang mit Orbán
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 8. Dezember 2023
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf: Deutschlands Krise von außen und innen +++ Rutte besucht den Kanzler +++ Ein Jahr nach der Reichsbürger-Razzia +++ Das Klima in der Ampel +++ Einigung beim Digitale-Dienste-Gesetz


Guten Morgen! Eisenbahner wollen also ihrem Vorsitzenden tatsächlich das Denkmal erstreiken, das er sich innig zum baldigen Ruhestand wünscht: die Weselsky-Woche. Bei mir klappt es nun doch nicht mit dem zweiten Jahr in Folge ohne rein innerdeutschen Flug.

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Hoffentlich haben Sie nach der Ankündigung auch rasch geschaltet, falls Sie heute verreisen müssen. Für den Weg ins Büro, zum Busbahnhof oder Flughafen bei uns in Berlin: Es werden nicht nur der Fern- und Regionalverkehr, sondern auch die S-Bahn betroffen sein. Die BVG hingegen fährt, weil sie uns eben liebt.

Was wichtig wird

1.

Deutschland von außen

Nächste Woche ist EU-Gipfel, die Programmpunkte sind dicht gedrängt und die Einsätze hoch wie selten. Eine spezielle Neugier aber plagt viele Regierungszentralen. Wenn Olaf Scholz am Donnerstag in Brüssel aufschlägt, werden ihn Fragen erwarten. Wie die anderen uns gerade wahrnehmen: als ein Land, das sich seine Krisen immer noch am besten selbst einbrockt.

Viele Fragen: Das sagen Diplomaten, hohe Beamte, Vertreter des Brüsseler Establishments, ihren Rollen entsprechend im Hintergrund. Katarina Barley sagte es auch, zitierfähig, im Gespräch im Willy-Brandt-Haus diese Woche. Ihrer SPD wird sie es in ihrer Parteitagsrede auch zurufen, hat sie sich überlegt.

Seltsame Krise: „Deutschland wird in Europa wahrgenommen als ein sehr reiches Land, das im Zweifel Subventionen ausschütten kann, um Krisen zu lösen“, sagte Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments und Spitzenkandidatin der SPD für die Europawahl nächstes Jahr. „Es kann sozial abfedern und das viel mehr als manch andere Staaten.“ Genau das ist oft genug ein Ärgernis für die Länder mit nicht so tiefen Taschen – umso seltsamer muss ihnen die aktuelle Berliner Krise erscheinen. 

„Viele Staaten sehen es deswegen mit Verwunderung, dass sich Deutschland mit der Schuldenbremse in der Verfassung selber Fesseln anlegt“, sagte Barley. „Da herrscht große Verwunderung und auch eine gewisse Besorgnis, weil es wichtig ist, dass Deutschland Motor der europäischen Wirtschaft ist“, sagte sie. „Wenn Deutschland sich mit der Schuldenbremse selber einschnürt, dann tut das Europa nicht gut.“

Selbstgemachte Probleme? Von der „most German crisis ever“ schrieb Matthew Karnitschnig neulich im anderen Berliner Freitagsnewsletter, dem von Politico, und Christian Odendahls These im Economist war: „Deutschland hat viele Probleme. Exzessive öffentliche Verschuldung gehört nicht dazu.“ Seither wird er als Redner überall herumgereicht: Es ist Mainstream in vielen befreundeten Hauptstädten; im weniger befreundeten Ausland fällt wenigstens die Analyse wahrscheinlich ähnlich aus.

Den Willen, sich deutschen Überzeugungen und Wünschen in Haushaltsfragen anzuschließen, hat die Berliner Lage beim EU-Finanzministerrat gestern in Brüssel nicht gerade gesteigert, sagten Beteiligte an den Verhandlungen über eine Reform der EU-Schuldenregeln.

Fromme Hoffnung: Vielleicht setzt Barleys Wunsch ja Kräfte frei und vor seine Anhänger tritt morgen der Löser aller Dinge: Der Parteitag werde deutlich machen, „dass wir eine Vorstellung davon haben, wie wir durch die Krise kommen und wie wir sie meistern“, sagte sie. „Wir werden die Reden hören, etwa die des Kanzlers. Ich bin zuversichtlich, dass wir danach einen Kurs haben, der uns für die kommenden Herausforderungen wappnet.“

Mehr von Barley und zum Gipfel unten, und damit zur Innenansicht der Krise als solcher.

2.

Advent, Advent, die Hütte brennt

Zwei von zehn Befragten sind laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend mit der Arbeit des Bundeskanzlers zufrieden. Nur 14 Prozent würden SPD wählen, die damit die kleinste Bundestagsfraktion stellen würde (Union 32, AfD 21, Grüne 15, FDP 4 Prozent). Es ist der niedrigste Wert für einen Bundeskanzler, seit es die Befragung gibt, seit 1997. Politik heißt Führung, heißt Entscheidungen zu treffen, gerade in Krisen.

Vielleicht liegt es daran: Die erste selbst gesetzte Frist zur Beendigung des Haushalts-Chaos in dieser Woche hat die Koalition rasch gerissen: Bis zur Kabinettssitzung sollten Grundzüge des Haushalts 2024 stehen. Wir saßen am Dienstagabend aber mit einem Haushälter um eine Cocotte voll Navarin d'agneau herum und sprachen in anregender Runde über KI und Kissinger; von besonderer Hast war keine Rede.

Politische Einigung: Dann also „sehr bald“, wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwochmittag mitteilte. Das heißt im allgemeinen Sprachgebrauch: sehr bald. Für des Kanzlers Entourage aber ist es ein dehnbarer Begriff. Am Donnerstag schrieb Katja Mast, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion in einer Nachricht, die die SZ einsehen konnte: „Obwohl wir von unserer Seite alles dafür getan haben, kann der Haushalt für das Jahr 2024 nicht mehr rechtzeitig in diesem Jahr beschlossen werden.“ Aber hey! „Olaf ist zuversichtlich, dass in den kommenden Tagen ein Ergebnis erzielt werden kann.“ Mehr hier.

Zerreißprobe Parteitag? Nun also die dritte Frist der Woche, der heute beginnende SPD-Parteitag. Delegierte, die auch die OWD-Maxime („Olaf will das“) beeindruckt, glauben nicht an großes Drama. Der Juso-Vorsitzende Philipp Türmer kündigte allerdings im Gespräch mit der SZ ein solches an. Und einer, der schon Aufstände aus geringeren Gründen erlebt hat als den Eindruck, der Kanzler könne einer schmerzhaften Kürzung im Sozialhaushalt zustimmen, sagt voraus, Scholz müsse schon mit einem Plan kommen: „Sonst fliegt ihm der Parteitag um die Ohren.“ 

Scholz’ Vorhaben laut Haushältern: Den Delegierten das Gefühl zu geben, sie würden den Plan oder wenigstens seine Leitplanken entwickeln, die er dann mit in die Gespräche nehme.

Was bleibt ihm übrig: Solange kein Bundeshaushalt steht, wird nur weitergebaut, was schon begonnen wurde, ausgezahlt, was per Bescheid zugesagt ist, auch bei Sozialleistungen und Gehältern. Alles andere muss Bundesfinanzminister Christian Lindner genehmigen: das Regime der vorläufigen Haushaltsführung verhindert Shutdown und Staatskrise, wie sie den USA wieder und dauernd droht – ein Anreiz zu zügiger Einigung ist sie für den Finanzminister nicht.

Der Unterschied zwischen Liberalen und Sozialdemokraten hier recht anschaulich in einem Tweet.

3.

Mehr als ein Höflichkeitsbesuch

Der geschäftsführende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte trifft am Montag in Berlin Bundeskanzler Olaf Scholz und stattet auch dem Bundesrat einen Besuch ab. „Rutte wird wahrscheinlich eines der letzten Male als Premierminister in Berlin sein“, sagte ein niederländischer Diplomat. Doch die beiden hätten viel zu tun und besprechen.

Was auf der Tagesordnung stehen wird: „Der europäische Haushalt, die Ukraine, die Erweiterung und die Haltung Orbáns erfordern eine klare europäische Antwort“, sagte der Diplomat. Eine möglichst gemeinsame Linie sei „wichtig und notwendig für einen europäischen Kompromiss.“ Im Bundesrat und mit einigen Ministerpräsidenten wird Rutte „über gemeinsame Herausforderungen wie Industriepolitik und Migration sprechen.“ Außerdem ist er zu Gast an der Hertie School.

Dutchification? Ruttes Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) verlor vor wenigen Wochen das Rennen um den ersten Platz in den Parlamentswahlen gegen den Rechtspopulisten Geert Wilders. Rutte kann aus erster Hand über die Folgen des Zersplitterns des Parteienspektrums sprechen, das lange als „Niederländisierung“ etikettiert wurde, und den Weg der extremen Rechten an die Macht, was in Europa früher einmal zuerst mit Österreich verbunden wurde. Scholz wird mit Blick auf die Wahlen im kommenden Jahr bestimmt recht interessiert zuhören.

Werbetour für NATO-Chefposten? Das Auswahlverfahren für das Amt des NATO-Generalsekretärs ist sensibles Unterfangen, denn es erfordert einen Konsens unter allen 31 Mitgliedsstaaten und am besten keine Plaudereien. Derzeit wird Rutte hoch gehandelt, höher als Anwärter wie Lettlands Ex-Premier Krišjānis Kariņš und Estlands Regierungschefin Kaja Kallas, die, siehe oben, ein Problem mit einer Sache haben: Budapest muss zustimmen, die Türkei auch, alle halt, auch die Schwierigen, die Erratischen und die Choleriker. 

Amtsinhaber Jens Stoltenbergs Amtszeit läuft derzeit bis Oktober 2024. US-Außenminister Antony Blinken sagte am Mittwoch, er erwarte, dass man bis zum NATO-Gipfel im Juli „in der Lage sein wird, klarer und direkter darüber zu sprechen.“

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Tiefgang

Umgehen mit Orbán

Die „Erpressungsversuche“ des ungarischen Premierministers Viktor Orbán dürften keinen Erfolg mehr haben, sagte die Sozialdemokratin Katarina Barley und kritisierte heftig die EU-Kommission unter der Christdemokraten Ursula von der Leyen dafür, genau diesen Eindruck zu erwecken.

„Ich kann nicht nachvollziehen, warum die EU-Kommission Nachgiebigkeit signalisiert“, sagte sie. „Wenn es stimmt, dass sie in nun 10 Milliarden Euro freigeben will – da fehlen mir die Worte.“ Eine Tranche bislang zurückgehaltener Gelder könnte sehr bald ausgereicht werden; rechtlich begründet mit Reformfortschritten und politisch eng verbunden mit Orbáns Vetodrohung vor dem EU-Gipfel.

Zuerst zum Rechtlichen: „Zu glauben, dass Orbán wirksame Antikorruptionsmechanismen aufbaut, ist doch absurd“, sagte Barley. 

Dann zum politischen Kalkül: „Orbán wird seinen Ukraine-Kurs nicht grundlegend ändern, auch wenn man ihm das Geld gibt“, sagte Barley. „Ich glaube, man kann sich mit dem Geld Zeit kaufen, die Zustimmung zu einzelnen Maßnahmen.“ Dass aber sich Orbán nicht beeindruckt zeigte und mitteilte, eine Auszahlung der Tranche habe keinen Einfluss auf seine Haltung zur Ukraine: „Also das ist ein Bluff“, sagte Barley.

Dem EU-Gipfel droht ein spektakuläres Scheitern, und zwar mit Ansage. Orbán ist hartleibig und kündigte an, er werde der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine nicht zustimmen. Wenn auf einem EU-Gipfel offiziell etwas beschlossen werden soll, ist Einstimmigkeit erforderlich.

Es wäre in den Augen einer großen Mehrheit der Länder eine herbe Enttäuschung mehrerer selbst gesteckter Ziele der EU: als Spieler auf der Weltbühne wahr- und ernstgenommen zu werden; die Ukraine nicht nur militärisch, sondern politisch zu unterstützen; und in dieser entscheidenden Frage Russland keinen Grund zum Zweifel an der Einigkeit Europas zu geben.

In anderen Worten: Ohne den Ukraine-Beschluss würde nicht etwa das Gipfel-Management ein bisschen ruckeln, es würde die europäische Außenpolitik entgleisen. Daher zahlreiche Versuche, Orbán umzustimmen – von Lockungen der Kommission über Emmanuel Macrons Einladung zum gemeinsamen Abendessen nach Paris gestern Abend; nach Auskunft aus dem Élysée dazu gedacht, dem Gast seine Isolation in der EU vor Augen zu führen. Es hat halt ein jeder seine eigenen Wege, dies zu tun.

Orbán hat, wie oft, ein großes Fass mit Stolz und Sturheit gefüllt, auf dessen Boden ein valides Argument liegt: dass im Fall der Ukraine nicht gelten solle, was den Westbalkanstaaten seit Jahrzehnten gepredigt wird, dass sie mit überzeugenden Reformanstrengungen in Vorleistung gehen müssten, um EU-Mitglieder werden zu können. Das erkennt auch Barley an. „Faktisch ist es natürlich so, und es wurde auch offen gesagt, dass der Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldawien eine strategische Entscheidung ist“, sagte sie. „Das kann man richtig finden oder falsch.“ 

Dass die Ukraine die anderen überhole, „würde ich nicht so formulieren“, es gehe ja bislang nur darum, Kandidatenstatus zu gewähren. „Über den Beitritt zur Europäischen Union müssen wir wirklich diskutieren: Für die Ukraine müssen die Kopenhagener Kriterien gelten, wie für alle anderen auch“, sagte sie.

Die Ukraine ist ein riesiges Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern und einem Agrarsektor, der allein durch seine Größe den EU-Haushalt (unreformiert) radikal verändern würde. „Wenn so ein großes Land am Ende in demokratischer, rechtsstaatlicher Hinsicht unsere Kriterien nicht erfüllt, dann kann das vieles durcheinander und auch auseinanderbringen“, sagte Barley. „Auf jeden Fall sollte eine Aufnahme nur gemeinsam mit den Westbalkanstaaten erfolgen.“

Barley widerspricht der Beobachtung entschieden, dass Ungarn und Polen die beiden Themen ihrer Legislaturperiode waren (Polen kommt ihr in dieser Hinsicht wohl bald abhanden). Dass Rechtsstaatlichkeit ihr großes Anliegen ist, lässt sie gelten. „Mich besorgt die Entwicklung in Ungarn sehr. Was die Rechtsstaatlichkeit im Land selbst betrifft, kann es fast nicht mehr schlimmer werden“, sagte sie. „Ungarn ist keine Demokratie mehr.“

Mit Folgen. „Das wirkt sich aus auf die Europäische Union selbst: Es wird immer schlimmer, weil Orbán immer ungenierter agiert“ – selbst ohne die polnischen Verbündeten. „Die Erpressungsversuche folgen jetzt noch unverblümter und auch schneller aufeinander“, sagte Barley.

Was also tun? „Was für eine Message senden wir denn, wenn wir nichts tun gegen den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn? Dann ist die EU in den Händen eines Autokraten“, sagte sie. „Das geht nicht, auch weil die anderen sehr genau darauf schauen.“ Das Geld sieht Barley als das zentrale Druckmittel, auch vorbeugend.

Die italienische Ministerpräsidentin zum Beispiel: „Dass Giorgia Meloni sich so kooperativ in Europa verhält, hat auch damit zu tun, dass Italien es sich nun wirklich nicht leisten kann, auf europäische Gelder zu verzichten“, sagte Barley. Auch Geert Wilders, der rechte Wahlsieger in den Niederlanden, solle die Botschaft empfangen, wünscht sie sich: „Fangt nicht an, die europäischen Werte über Bord zu werfen, sonst hat das Konsequenzen.“

Die vermaledeite Einstimmigkeit und damit das Erpressungspotential endlich loszuwerden, ist ein anderer Vorschlag, unter anderem des Bundeskanzlers, dem Barley zustimmt. Kleinen Ländern liegt an der Einstimmigkeit schon aus Prinzip und Selbstschutz viel.

Ob das also den Kampf lohnt? Selbst ein lang und zutiefst überzeugter Befürworter einer weiteren Integration der EU war im Zwiegespräch diese Woche skeptisch, ob die EU, ob mit 27 oder perspektivisch bis zu 35 Mitgliedern, als Ganzes noch reformfähig ist – oder ob die Eurozone nicht zwangsläufig die eigentliche EU werden müsse, die heutige EU sich um den Binnenmarkt gruppieren und die Erweiterung mit Zugang dazu, aber nicht mit Mitsprache beginnen könne.

Barley will derlei vorerst nicht hören und setzt auf Vertiefung. „Wir haben noch nicht mal einen Verteidigungskommissar, das Europäische Parlament hat keinen Verteidigungsausschuss. Das sind Punkte, die wir ändern sollten“, sagte sie. „Wir müssen Europa dafür fit machen, geopolitisch eine wichtigere Rolle zu spielen.“

Wird es in ihrem Europawahlkampf eine Hauptrolle spielen? Na ja, mal schauen, was noch passiert: „Im Moment ändert sich die Lage ja quasi wöchentlich“, sagte sie. „Der Europawahlkampf ist traditionell kurz, von daher nehmen wir uns die Zeit.“

Fast übersehen

1.

Umgang mit Siedlern: Deutschland will die von den USA erlassenen Einreisebeschränkungen für „extremistische“ israelische Siedler auf die EU ausweiten, wie ein Sprecher des Auswärtigen Amts sagte. Zuvor hatte Washington Visarestriktionen erlassen gegen Personen, die „den Frieden, die Sicherheit oder Stabilität im Westjordanland“ untergraben. Bewaffnete Angriffe von Siedlern seien, als würde man Benzin ins Feuer gießen, sagte US-Präsident Joe Biden.

Klare Haltung? Wie es nun aus dem Auswärtigen Amt heißt, werde sich Deutschland beim EU-Außenrat am Montag in diese Diskussion aktiv einbringen. Es sei wichtig, diese Debatte auch auf europäischer Ebene voranzutreiben. „Palästinensische Familien müssen in ihren angestammten Wohnorten und auf ihrem Land ohne Angst leben können. Insofern begrüßen wir, dass die USA in ihrer Haltung genauso klar wie wir sind und nun konkrete Maßnahmen in Form von Einreisebeschränkungen angehen werden“, sagte der Sprecher.

Rosinenpickerei? Der Zentralrat der Juden kritisierte die deutschen Äußerungen. Eine „innenpolitische Herausforderung“ Israels solle auch als solche behandelt werden. „Dass die USA aus einer Position der klaren Haltung vor der UN und als größter militärischer Unterstützer Israels hier klar benennt, dass die extremistischen Siedler Benzin in das Feuer der Hamas gießen, ist absolut richtig“, hieß es in einem Statement. „Deutschland und die EU sind nicht in dieser Position und sollten keine Rosinenpickerei betreiben.“

2.

Ein Jahr nach der Reichsbürger-Razzia: Vor einem Jahr startete die deutsche Justiz eine großangelegte Razzia gegen die Reichsbürger von der „Gruppe Reuß“. Jetzt steht die Bühne für ein Justizverfahren, das sich gewaschen hat. Der Vorhang geht in den nächsten Wochen hoch: Anklagen gegen die 27 (von insgesamt 69) Verdächtigen in Untersuchungshaft stehen an. Wie unsere Kolleginnen und Kollegen von SZ, NDR und WDR hier, hier und hier berichten, will der Generalbundesanwalt sie noch vor Weihnachten erheben.

Drei Gerichte, drei Länder: Wir reden hier von drei Oberlandesgerichten in Frankfurt, Stuttgart und München, die sich mit Anklagen wegen Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sowie Hochverrats beschäftigen – die Ermittlungsakten füllen 850 Ordner und lassen vermuten, dass es mehr als die Rollator-Verschwörung war, über die so herzlich gelacht wurde.

Waffen und Munition: Die Ermittler enthüllten Details von Plänen für einen Angriff auf den Bundestag. Sie entdeckten auch eine „Kommandozentrale“ mit mehreren Bildschirmen, Deutschlandkarten, Nummernschildern und Entwürfen für Dienstausweise. Zudem wurden bei den Beschuldigten mindestens 382 Schusswaffen und Munition gefunden, darunter Pumpguns und ein Maschinengewehr.

AfD-Abgeordnete involviert: Die Verwicklung der ehemaligen AfD-Abgeordneten Birgit Malsack-Winkemann, die Zutritt zum Bundestag hatte, verleiht dem Plan zusätzliche Brisanz. Wie die SZ berichtet, habe sie mehrfach Mitbeschuldigte durch das Parlament geführt – bei einem wurden Fotos und Videos von Treppenhäusern, unterirdischen Verbindungsgängen und Parkplätzen in der Tiefgarage sichergestellt.

Jahrelange Prozesse? Die Gruppe führte einen Aufnahmebogen für Bewerber ihrer bewaffneten Kräfte, die militärische oder polizeiliche Erfahrung, Waffenbesitz und Kampfsporterfahrung nachweisen sollten. Etwa die Hälfte der Beschuldigten hat einen Bundeswehrhintergrund. Die Prozesse gegen das Reichsbürger-Netzwerk, die wahrscheinlich im Frühsommer 2024 beginnen werden, könnten mehrere Jahre dauern.

3.

Das Klima in der Ampel: Am Mittwoch hat das Kabinett eine Strategie zur Klimaaußenpolitik beschlossen, laut Regierung die umfassendste dieser Art weltweit. Sie soll sehr gern als Blaupause dienen für Maßnahmen gegen die Klimakrise, eine „zentrale Menschheitsaufgabe dieses Jahrhunderts“: Deutschland wolle die globale Energiewende beschleunigen, durch Beispiel, mit Geld, gutem Rat und Zureden. 

Ach ja, der Haushalt, naja, mal sehen. Der Rest, in Dubai, auf gutem Wege, sagt die Regierung über die eigenen Anstrengungen: „Mittlerweile unterstützen 123 Staaten einen freiwilligen Aufruf auf der COP, die erneuerbaren Energien zu verdreifachen“, heißt es aus der Delegation. „Dies zeigt, dass ein Großteil der Weltgemeinschaft voranschreiten will.“ Das sei ein starkes Signal für die Verhandlungen auf der Weltklimakonferenz, auf dem Außenministerin Annalena Baerbock aufbauen werde. 

Da ist noch Arbeit: Eine Verankerung im eigentlichen COP-Beschluss sei in greifbare Nähe gerückt. „Es liegt ein Text vor, der alle wichtigen Eckpfeiler enthält, aber noch zu viele unterschiedliche Optionen bietet.“ Baerbock, gestern angereist, werde sich in Dubai für eine möglichst starke Sprache zum Ausstieg aus den fossilen Energien einsetzen und dafür auch am Rande der Verhandlungen Gespräche führen.

Von der Klimainnenpolitik war derweil länger keine Rede, dabei haben wir uns doch den ganzen Sommer damit beschäftigt, als gäbe es keine Welt.

4.

Einigung beim Digitale-Dienste-Gesetz: Die Umsetzung des europäischen Digital Services Act (DSA) als nationales Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) steht unmittelbar bevor. Wie unser Dossier Digitalwende zuerst berichtete, hat die Bundesregierung beschlossen, die Landesmedienanstalten einzubinden, um absichtliche Falschnachrichten, Irreführungen und Hassrede zu bekämpfen. Die Abstimmung über den Gesetzentwurf im Kabinett ist kurz vor Weihnachten geplant – länger darf es auch kaum dauern, soll die Umsetzungsfrist bis zum 17. Februar gewahrt bleiben.

Unstimmigkeiten ausgeräumt: Der Referentenentwurf aus dem Digitalministerium war seit August fertig, seitdem wurde ein Kabinettsbeschluss aber geschoben. Nun sind die politischen Unstimmigkeiten ausgeräumt. Das Gesetz soll die Meinungsfreiheit schützen, während es gleichzeitig effektive Maßnahmen gegen illegale Inhalte vorsieht, mit Betonung auf effektiv — das Ganze im Kontext des deutschen Föderalismus.

Müller, übernehmen Sie: Die Bundesnetzagentur wird als zentrale Koordinierungsstelle für die Regulierung fungieren, zusätzlich sind die Landesmedienanstalten und anderen Behörden Teil der Aufsichtsarchitektur. Ihr Präsident Klaus Müller sagte SZ Dossier, die Behörde sei vorbereitet.

Der Regulierer von nebenan: Die Europawahl sieht Müller als einen ersten wichtigen Testlauf, doch die Zeit bis dahin sei knapp. Die Bundestagswahl werde dann die nächste große Herausforderung. „Die Frage, wie Plattformen mit den systemischen Risiken umgehen, das ist natürlich die Kernfrage des DSA“, sagte Müller. „Und da freuen wir uns sehr drauf, ein sehr freundlicher, aber auch sehr engagierter Regulierer zu werden.“

Zitat des Tages

Pazifist sein heißt, Gewalt und Krieg abzulehnen. In dem Sinne bin ich auch Pazifist. (…) Auch als Pazifist – und vielleicht sogar gerade als Pazifist – darf man sich verteidigen und anderen dabei helfen, das zu tun.

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) im Interview mit der Zeit

Deutschland in Daten

China ist Deutschlands wichtigster Handelspartner
in Kooperation mitStatista

Hinter dem Vorhang

Wir wachsen: Ab dem 1. Januar wird Selina Bettendorf uns verstärken. „Einige von Euch kennen Selina bereits, die anderen haben bestimmt ihre Autorenzeile wahrgenommen, etwa über dieser krimigleichen Rekonstruktion der Entlassung des früheren BSI-Präsidenten Arne Schönbohm“, haben Matthias Punz, der Leiter des Dossiers Digitalwende, und ich gestern dem Team geschrieben. „Selina hat als eine der ersten und sehr hartnäckig die Hintergründe verfolgt, als bei anderen Jan Böhmermanns Wort noch eigene Recherche aufwog.“ Wir freuen uns sehr auf die Kollegin, die ihre Erfahrung und Expertise an der Schnittstelle zwischen Digital- und Sicherheitspolitik einbringen wird. 

Wer mag mitmachen? Ich suche eine Leitung für unser nächstes Dossier. Wer Lust hat, in Berlin unsere spezialisierte Berichterstattung über deutsche Energiepolitik auf dem Weg zum Nullemissionsziel aufzubauen, ein Team von Reporterinnen und Reportern zu führen und ein tägliches Morgenbriefing zu schreiben und verantworten: Hier und drüben auf Linkedin mehr zu Anforderungen und Erwartungen.

Zu guter Letzt

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wurde im September Opfer eines Telefonstreichs, wie diese Woche bekannt wurde. Der Anrufer gab sich als Vertreter der Afrikanischen Union (AU) aus. Das Wirtschaftsministerium bestätigte das Gespräch, gab aber Entwarnung: Keine vertraulichen Infos seien preisgegeben worden.

In der Tat: Die Telefontrolle veröffentlichten eine Aufnahme des Gesprächs auf Telegram und Habeck sagt auf Englisch Dinge, die er auch auf Deutsch und öffentlich erklärt: „Wir müssen mit einem langen, für kommendes Jahr und vielleicht länger laufenden Krieg rechnen“, heißt es in der Aufnahme. Druck sei die einzige Sprache, die Putin verstehe. Das Ministerium erhielt im Anschluss Hinweise deutscher Nachrichtendienste, was zu einer Überprüfung und Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen geführt habe.

Habeck befindet sich mit diesem Missgeschick übrigens in bester Gesellschaft: Vor ihm sind Angela Merkel und Giorgia Meloni mit dem Trick reingelegt worden, der so alt ist wie das Telefon selbst. Da es so oft angebliche Spitzenvertreter der AU sind (wenn auch mit russischem Akzent), die da anrufen: Als Service für europäische Führungskräfte und bis die Namen auswendig sitzen, hier die Webseite der AU-Kommission.

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin