Die Lehren aus der Wilders-Wahl
Süddeutsche Zeitung Dossier
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Freitag, 24. November 2023
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Von Florian Eder

mit Gabriel Rinaldi

Schnelldurchlauf: Notlage 2023 +++ Heikle IT-Störung im Bundestag +++ Jugendbeteiligung in Kommunen +++ Lektionen zur Klimapolitik +++ EU-Reformen vor Wahlkampf?


Guten Morgen! Die Mitschrift der Kabinettssitzung vom 31. August 1966, ein Mittwoch natürlich, verzeichnet eine Diskussion über „Maßnahmen zur Vermeidung eines Haushaltsfehlbetrages im Rechnungsjahr 1966“. Den Vorsitz führte Bundeskanzler Ludwig Erhard, der für CDU im Bundestag saß. Finanzminister war Rolf Dahlgrün von der FDP. 

Der ehemalige Bundesfinanzminister Theo Waigel von der CSU war schon im politischen Geschäft und erinnert sich an „unglaubliche Parallelen“ zur heutigen Lage, wie er gestern Abend erzählte.

Der Streitpunkt damals: Versprechen aus dem Wahlkampf 1965 wie Hilfen für Bauern, Erhöhung des Kindergeldes und der Beamtenbesoldung und staatlich geförderte Vermögensbildung waren angesichts sinkender Steuereinnahmen in der ersten Wirtschaftskrise der jungen Bundesrepublik nicht mehr aus dem laufenden Haushalt zu finanzieren.

„Dann war da ein Fehlbetrag von 3 Milliarden Euro, und daran zerbrach die Koalition“, sagte Waigel gestern Abend am Telefon. „Erhard wollte die Etatlücken mit Steuererhöhungen stopfen. Die Liberalen lehnten gerade die aber ab.“

Am 27. Oktober traten die vier FDP-Bundesminister dann zurück, „nachdem auch gestern Abend die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Koalitionsfraktionen über die Finanz- und Haushaltspolitik nicht überbrückt werden konnten“, wie Erich Mende, Minister für gesamtdeutsche Fragen, den Ausstieg begründete.

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Was folgte, Teil 1: Am 1. Dezember wählte der Bundestag Kurt Georg Kiesinger mit Stimmen von CDU, CSU und SPD zum Bundeskanzler und Franz Josef Strauß trat erneut in die Bundesregierung ein.

Was folgte, Teil 2: Kiesinger und Strauß „haben sich darauf verlassen, dass die Große Koalition weitergeführt wird“, sagte Waigel. „Mit dem taktischen Gespür Willy Brandts haben sie nicht gerechnet.“ 1969 wurde Brandt Regierungschef der ersten sozialliberalen Koalition. 

Geschichte wiederholt sich nicht. Damals lehnte die Union eine Streichung konsumtiver Ausgaben von minderem Ausmaß ab. Damals schloss die FDP Steuererhöhungen aus, heute tut sie es wieder. Damals zerbrach eine Koalition an drei Milliarden Mark, „heute an 300 Milliarden Euro noch nicht“, sagte Waigel. Damals hatte die FDP Optionen, heute hat sie sich vieles verbaut – umso mehr, falls es noch gilt, lieber gar nicht zu regieren als schlecht.

Was wichtig wird

1.

Notlage 2023

Die Bundesregierung will sich mit einer weiteren Ausnahme von der Schuldenbremse aus ihrem Schlamassel befreien. Finanzminister Christian Lindner sagte am Donnerstag, auf dem Kabinettstisch werde in der kommenden Woche ein Nachtragshaushalt für 2023 liegen. 

Es brauchte aber eine Sprecherin und einen Tweet, damit klar wurde, was er ebenfalls mitteilen, wenn auch vielleicht nicht sagen wollte: Die Bundesregierung wird dem Bundestag vorschlagen, für das laufende Jahr eine außergewöhnliche Notlage zu erklären und so – gerade so – den Bundeshaushalt verfassungskonform zu machen. Dafür reicht eine einfache Mehrheit. Auf vier Dinge achten wir nun.

Welche Not? Die Notlage, die nun noch im Dezember erklärt werden soll, ist kaum durch Einflüsse entstanden, die zu Jahresbeginn noch nicht absehbar gewesen wären. Anders als taktisch motiviert oder einigermaßen alternativloses Eingeständnis, dass der Haushalt 2023 juristisch anders nicht zu retten sein wird, ist das Vorhaben kaum zu lesen. 

Worauf also wird die Begründung des außergewöhnlichen Schocks abheben – Gefahr für den Zusammenhalt der Ampel und damit für die politische Stabilität? Mit der dringenden Notwendigkeit, Zweifel an der Unfehlbarkeit des Bundeskanzlers auszuräumen, dem Ideengeber oder Urheber der nun kassierten Sondertöpfe? Der ehrliche, aber wenig salonfähige Grund: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus der vergangenen Woche, das den Pfusch derselben Bundesregierung monierte.

Es gibt hier nichts zu sehen: Einige Vertreter und Vertreterinnen der Koalitionsfraktionen waren in Gesprächen noch eine ganze Woche nach dem Karlsruher Urteil überzeugt, die Schrittfolge zum Bundeshaushalt 2024 ohne Weiteres einhalten zu können. Das hieß, ihre Nachtarbeit im ersten Teil der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses am vergangenen Donnerstag für recht bedeutsam zu halten; im geplanten zweiten Teil gestern abstimmen zu wollen; und ab Montag eine Haushaltswoche im Plenum bestreiten zu können.

Das wird nichts, aber der Verweis auf „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ hat dieser Koalition schon öfter geholfen, vermurkste Ansätze noch gerade zu ziehen. Nun ist er wieder zu hören: Nächste Woche jedenfalls wird kein Bundeshaushalt 2024 beschlossen.

Ob das in der nächsten regulären Sitzungswoche Mitte Dezember passieren soll, in einer Sondersitzung in der Woche darauf, der vor Weihnachten, oder erst im neuen Jahr, wer weiß: Dafür müsste die Regierung ja eine Antwort in der Sache darauf haben, wie die Vorgaben des Verfassungsgerichts mit den eigenen Ausgabenwünschen in Einklang gebracht werden sollen. Es herrscht maximale Orientierungslosigkeit und große Verwunderung darüber, wie es aus der SPD-Fraktion hieß, dass auch der Kanzler immer noch keinen Plan B verraten wolle (oder habe).

Schuldenbremse unter Feuer: Teilen der SPD-Fraktion kommt diese Lage nicht völlig ungelegen, wie mein Kollege Georg Ismar berichtet, zum Preis, dass ihr Kanzler dabei nicht sehr gut aussieht. Auch der Grünen-Parteitag, der noch das ganze Wochenende läuft, hat neben der Migrationspolitik ein weiteres heißes Thema bekommen: „Mit der Schuldenbremse, wie sie ist, haben wir uns freiwillig die Hände hinter dem Rücken gefesselt“, sagte Vizekanzler Robert Habeck am Abend in Karlsruhe, bezugnehmend auf andere große Industrienationen der Welt. „Und so wollen wir einen Boxkampf gewinnen? Die anderen wickeln sich Hufeisen in die Handschuhe, wir haben noch nicht mal die Arme frei.“

Wegner hat’s genommen: Der Berliner Regierende Bürgermeister Kai Wegner war gestern der erste Ministerpräsident, der seinem Parteivorsitzenden Friedrich Merz die Freude am Urteil der Vorwoche nahm: Er nannte die „derzeitige Ausgestaltung“ der Schuldenbremse „gefährlich“ und will sie ändern, auf dass sie nicht nur „Zukunftsbremse“ werde. Jetzt ein Wort aus Düsseldorf, und die Berliner Debatte – kurzzeitig geführt über einen verfassungskonformen Bundeshaushalt und eine zukunftsfeste Finanz- und Wirtschaftspolitik – ist wieder in der Kuhle angelangt, in die sie sich am liebsten schmiegt, bei der K-Frage der Union.

Was der Bundestag übrigens mit der geschenkten Plenarwoche anfängt? Heute kommt der Ältestenrat zu einer Sondersitzung zusammen.

2.

Heikle IT-Störung im Bundestag

Eine Sicherheitslücke im Bundestag hat dazu geführt, dass Nutzer fraktionsübergreifend auf fremde Kalendereinträge zugreifen konnten, wie unser SZ Dossier Digitalwende heute berichtet. Bei der Synchronisation der Microsoft-Exchange-Server auf Apple-Computern gab es zwischenzeitlich Probleme: Wer seinen digitalen Bundestagskalender auf Geräten mit macOS-Betriebssystem eingerichtet hat, konnte mitunter die Termine anderer Abgeordnete sehen. SZ Dossier wurde der Fall von mehreren Seiten bestätigt, unter anderem von zwei Abgeordneten.

Vertrauliche Inhalte: Als Reaktion darauf sei die Mac-Synchronisation schnell von der Bundestagsverwaltung deaktiviert worden, neue Termine werden seitdem auf Macs nicht mehr synchronisiert. Ein Grünen-Abgeordneter nannte die Störung besonders problematisch, da es um besonders vertrauliche Inhalte gehe – die im schlimmsten Fall in die Hände von AfD-Abgeordneten gelangen könnten: Man arbeite hier „im digitalen Sinne Tür an Tür mit politischer Konkurrenz bis hin zu Rechtsextremen. Der Worst Case wäre, dass vertrauliche Daten in die Hände von AfD-Abgeordneten gelangen.“

Nicht zum ersten Mal: „Der Vorfall betrifft mehrere Personen. Die Bundestagsverwaltung hat die IuK-Kommission darüber auch bereits offiziell informiert“, sagte ein Mitglied der Bundestags-Kommission für den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und -medien (IuK) SZ Dossier. Das IuK-Mitglied erwähnte zudem, es gebe nicht zum ersten Mal Störungen im Zusammenspiel von Microsoft und Apple im Bundestag.

Wer ist verantwortlich? Microsoft teilte SZ Dossier mit, das Thema liege in den Händen des IT-Referates der Bundestagsverwaltung, Apple wollte sich zu dem Problem nicht äußern. Die Bundestagsverwaltung bestätigte die beschriebene Störung. Die Frage, ob es zum jetzigen Zeitpunkt immer noch Probleme gebe, blieb allerdings unbeantwortet. Mehr lesen Sie heute im SZ Dossier Digitalwende.

3.

Jugend entscheidet, Politik lernt

Wenn Jugendliche in der Lokalpolitik beteiligt werden, steigt nicht nur deren politisches Interesse, sondern auch das Bewusstsein für ihre Bedürfnisse in der gesamten Verwaltung. Das geht aus dem Abschlussbericht zur wissenschaftlichen Begleitung des „Jugend entscheidet“-Programms hervor, der nächste Woche von der Hertie-Stiftung vorgestellt wird. SZ Dossier schaut schon heute auf die Erkenntnisse des Projekts zur Jugendbeteiligung in Kommunen. Hier sind vier wichtige Punkte:

Politisches Interesse: Die Projekte, die während des Programms in 25 Kommunen durchgeführt wurden, konnten bei den 739 Teilnehmenden zwischen 8 und 17 Jahren neues politisches Interesse wecken. Sie hatten ein größeres Vertrauen in ihre Bürgermeister und zeigten eine höhere Wertschätzung kommunaler Politik. Die befragten Jugendlichen beteiligten sich aber auch außerhalb des Projekts häufiger, etwa in Vereinen oder bei Demonstrationen. Während sich in der Vorbefragung etwa 43 Prozent der Jugendlichen zutrauten, sich aktiv an Gesprächen über politische Fragen zu beteiligen, waren es in der Nachbefragung 67 Prozent.

Die da oben: Gleichzeitig entwickelten die Jugendlichen auch Verständnis für die Lokalpolitiker. Auch der Glaube daran, dass sie von der Politik ernst genommen werden, sobald sie politisch aktiv werden, fiel nach den Projekten höher aus. In 18 von 25 Kommunen wurde beobachtet, dass sich die Distanz zwischen Jugendlichen, Bürgermeistern und der Verwaltung verringert hat. Das gilt in beide Richtungen: „Jugendbeteiligungen bauen (…) stereotype Denkweisen über ‚die‘ Jugendlichen ab und ersetzen diese mit positiven Eindrücken“, sagte Sascha Nicke, der das Projekt wissenschaftlich beobachtet hat.

Engere Zusammenarbeit: 21 Kommunen wollen nun ein Jugendforum durchführen, sieben sogar ein regelmäßig tagendes Jugendparlament, sechs ein eigenes Jugendbudget einrichten. Die klare Mehrheit der Verwaltungen sieht nach dem Projekt keine thematischen Einschränkungen hinsichtlich der Jugendbeteiligung. 18 der 50 befragten Mitarbeiter haben während des Projekts ihre Meinung geändert. „Der Prozess hat nachhaltig die Perspektive auf Jugendliche bei mir und im Gemeinderat verändert“, sagte Alexandra Gauß, Bürgermeisterin der Gemeinde Windeck.

Auswirkungen auf Lokalpolitik: Jugendbeteiligung kann sich laut des Berichts auf kommunaler Ebene auch auf Politiker auswirken, die nicht direkt beteiligt waren. „Das hatte messbare Effekte auf andere Mitglieder im Stadtrat, die beim Projekt nicht dabei waren“, sagte Projektleiter Julius Oblong. Es habe eine Einstellungsänderung gegenüber den Interessen der Jugendlichen gegeben – so seien Anliegen wie Skateparks oder Busfahrzeiten ernster genommen worden. „Jugend entscheidet“ soll weiterlaufen, zuletzt gab es auf 15 Plätze rund 300 Bewerbungen. Bis 2025 sollen insgesamt 105 Kommunen das Förderprogramm durchlaufen. Bei rund 10.000 deutschen Kommunen ist das nur ein erster Schritt.

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Tiefgang

Lehren aus der Wilders-Wahl

Mit Geert Wilders hat ein Mann die Parlamentswahl in den Niederlanden gewonnen, der in programmatischer Radikalität der AfD noch etwas beibringen kann. Seine PVV, die sich traut, die Freiheit im Namen zu führen, war immer auf Putins Seite, ist gegen die EU-Mitgliedschaft des Landes und hat einen Wahlkampf gegen Migration und gegen den Islam geführt; differenzierter ist es nun mal nicht. Zuletzt entdeckte sie soziale Themen wie Wohnraum und versprach generell mehr Freibier, für Niederländer.

Der PVV-Vorsitzende, seit 20 Jahren im rechten Geschäft unterwegs, mäßigte sich zuletzt im Ton. Er kündigte an, er wolle mitregieren und um diesen Preis von offensichtlich nicht verfassungsgemäßen Forderungen wie dem Verbot von Moscheen oder dem Koran absehen. Davon werden wir mehr erleben in Wochen, Monate sind wahrscheinlicher, von Versuchen der Regierungsbildung. Um Partner zu finden und Neuwahlen zu vermeiden, in denen er das einmal Erreichte wieder aufs Spiel setzen müsste, wird Wilders verhindern wollen, als zu radikal zu gelten. Darin liegt nun seine Chance auf die Macht.

Schneller Reminder: Wilders’ PVV wurde, überraschend sogar für ihn selbst, größte Fraktion mit 23,5 Prozent, 37 von 150 Sitzen im Parlament oder besser dessen Zweiter Kammer, die am Mittwoch gewählt wurde. Nach weitem Abstand kommen dann eine gemeinsame Liste von Sozialdemokraten und Grünen mit 15,5 Prozent, die bisher regierende liberale VDD mit 15,1 Prozent, dann frühere Christdemokraten, die heute NSC (für „New Social Contract“) heißen, mit 12,8 Prozent und danach eine ganze Menge kleinerer und kleiner Parteien. Dass keine der früheren Volksparteien den ersten Platz erringt, ist neu. Mehr hier von Thomas Kirchner. 

Was nun? Es lohnt sich, genau hinzuschauen, was jetzt in Den Haag passiert.

Wo sind wir hier? Die Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft ist weit fortgeschritten. Überraschungserfolge sind einfacher zu erreichen, auch von Neugründungen wie einer Bauern-Partei, die bei den vorletzten Wahlen die Lage neu sortierte. Nicht zuletzt ist die PVV schon lange radikal, musste weder Programm noch Personal schrittweise dorthin verschieben. Das sorgt womöglich für einen Normalisierungseffekt, gerade wenn der politische Gegner ihn unterstützt. Zuletzt scheinen auch die nur sehr leisen Äußerungen der Regierung seit dem 7. Oktober auf Wilders’ Konto eingezahlt zu haben.

Zum Prozedere: Das Parlament bestimmt nun einen Scout, der mit dem Taschenrechner in der Hand mögliche Bündnisoptionen erkundet; ein „Formateur“ würde dann inhaltliche Überschneidungen potenzieller Koalitionen prüfen.

Option 1: Premier Wilders. Als argen handwerklichen Fehler brandmarkte Markus Söder, dass die neue VDD-Parteichefin – Nachfolgerin des amtierenden Premierministers Mark Rutte – Dilan Yeşilgöz im Wahlkampfendspurt eine Zusammenarbeit mit Wilders nicht mehr ausschloss (sie meinte, mit der PVV als Juniorpartner). Zehn Sitze verlor sie, nach Ansicht von Kritikern, Söder inklusive, weil sie Wilders hoffähig erklärte und sich selbst damit für eine gewisse Wählerschicht überflüssig. 

Viele Konjunktive: Wenn sie auch unter den neuen Bedingungen dabei bleibt, wenn ihre Partei mitzieht, deren starker europafreundlicher Flügel sich fest an der Seite von Emmanuel Macron sieht (und der FDP, fürs Protokoll), nicht von Marine Le Pen und Viktor Orbán – und wenn dann noch die mittige NSC über ihren Schatten springen sollte, dann könnte Wilders’ Traum wahr werden.

Für die Wahlen des nächsten Jahres in Deutschland – vom Europaparlament angefangen bis zu den Landtagswahlen, bei denen die AfD in Wilders-Manier abschneiden könnte – empfiehlt es sich, den Söder-Tweet vielleicht griffbereit zu halten. Er eignet in vielerlei Hinsicht, um die Laufwege des CSU-Vorsitzenden zu illustrieren. Manche Fehler im Umgang mit Rechten sieht man bei anderen auch klarer als in der eigenen Partei.

Option 2: Der Verlierer gewinnt. Der Sozialdemokrat Frans Timmermans hatte sich aufs deutsche Vorbild verlassen: Vielleicht der erste werden unter vielen ähnlich Großen; Scholz hatten das und ein nicht zu erschütternder Glaube an das eigene Genie, der beide verbindet, ja auch gereicht, um Bundeskanzler zu werden. Der ehemalige EU-Kommissar – noch früher auch „Erster Vizepräsident“, er legte Wert darauf – trat in der Parlamentswahl für eine gemeinsame Liste seiner Arbeitspartei und der Grünen an. 

Er wurde weit abgeschlagen zweiter und nahm dann doch lieber sich selbst zum Vorbild als den Genossen aus Berlin. Kommissionspräsident in Brüssel wäre er schließlich auch als zweiter Sieger in der Europawahl 2019 fast geworden, wenn nicht die Europäische Volkspartei ihrer danach nicht mehr so unumstrittenen Führungsfigur Angela Merkel brachial in den Arm gefallen wäre. Timmermans’ Claim diesmal: Er werde „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen“ – das heißt: versuchen, eine Regierung der linken Mitte zu bilden und jedenfalls eine unter seiner Führung.

Von solcher Selbstverständlichkeit können sich sogar in Berlin noch manche etwas abschauen. Damit der Plan aufgeht, wären aber nun polit-mathematisch VVD, NSC, und die weitere liberale Kraft D66, nötig. Ein solches Bündnis hätte allerdings keine Mehrheit in der Ersten Parlamentskammer, und für die VVD scheint auch kein großer Charme darin zu liegen: Nach innen wie nach außen wäre der Erklärungsbedarf hoch für rechts blinken und dann links abbiegen: Wenn diese Wahl ein klares Ergebnis hatte, dann dass die Mehrheit der Niederländerinnen und Niederländer rechts gewählt hat.

Option 3: Eine Minderheitsregierung rechts der Mitte unter Führung der VVD, die NSC und die Bürger-und-Bauern-Partei BBB einschließen könnte und sich ihre Mehrheiten wohl mit Wilders’ tätiger Hilfe organisieren müsste. Auch das hätte einen deutlichen Rechtsruck zur Folge, aber vielleicht mit geringeren Folgen auswärts. Zu den Rezepten für Einfluss, Mitsprache und enge politische Freundschaften gehörte es, für niederländische Regierungen international und in Europa, deutlich mittiger aufzutreten als sie es zu Hause sind.

Fast übersehen

1.

Lektionen zur Klimapolitik: Deutschlands Klima-Chefverhandlerin Jennifer Morgan forderte am Donnerstagabend in Berlin mehr Gerechtigkeit in der internationalen Klimapolitik. Eine Woche vor der UN-Klimakonferenz COP28 in Dubai schilderte sie sechs persönliche Lektionen aus 27 Klimakonferenzen. SZ Dossier fasst sie zusammen.

Raus aus der Klimablase: Es sei wichtig, in der Klimapolitik ein Gleichgewicht zwischen Gemeinwohl der Welt und nationaler Perspektive zu finden, eine Balance zwischen verbindlichen und nicht verbindlichen Gesetzen. Entscheidend sei aber, dass die Verhandlungen mit der Wirtschaft verknüpft werden. „Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, dass es nicht nur um eine Klimablase geht“, sagte die Staatssekretärin im Außenministerium. Doch letztlich gehe es darum, ein Ergebnis zu erzielen, das tatsächlich umgesetzt werde – und im Laufe der Zeit gesteigert werden kann.

Plurilaterale Ansätze: Klimadiplomatie, sagte die Beauftragte für internationale Klimapolitik, sei eben nicht nur die UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC), sondern auch alles andere drumherum. Als Beispiele nannte sie Akteure wie Städte oder die „notwendigen plurilateralen Ansätze“ wie gerechte Partnerschaften für die Energiewende. „Ohne einen echten Durchsetzungsmechanismus müssen andere Ansätze außerhalb der Verhandlungen ins Spiel kommen“, sagte Morgan.

Mehr Gerechtigkeit: Eine weitere Lektion hätte man laut der ehemaligen Klimaaktivistin schon früher lernen sollen, nämlich „dass wir das Soziale, die soziale Gerechtigkeit, mit der Klimapolitik zusammen denken müssen.“ Gerechtigkeit sei insgesamt ein Schlüsselelement, denn in der Klimapolitik gehe es vor allem um Multilateralismus. „Ohne einen multilateralen Ansatz, ohne die Schwächsten am Tisch, (…) kann ich Ihnen sagen, dass es (…) niemals funktionieren kann.“

2.

Reformen vor Wahlkampf? Es besteht eigentlich Einigkeit darüber, dass eine EU mit potenziell 36 Mitgliedern schwer zu führen sein wird – es gibt etliche Bereiche, in denen Einstimmigkeit erforderlich ist. Wenn man etwas daran ändern wolle, dann in der nächsten Legislaturperiode, nach den Europawahlen im Juni 2024, sagte Europa-Staatsministerin Anna Lührmann mir in einem gemeinsamen Gespräch mit ihrer italienischen Kollegin Maria Tripodi.

Scholz-Junktim: Die Ukraine macht sich Hoffnung, beim Europäischen Rat im Dezember ein deutliches Signal für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU zu bekommen. Gleichzeitig hat Bundeskanzler Scholz beizeiten ein wenigstens informelles Junktim erlassen: keine Erweiterung ohne Reform der inneren Governance der EU. Zugeständnisse werden da vor allem große Länder machen müssen, die sich weniger auf Regeln und Verfahren verlassen müssen, um ihr Gewicht zu sichern.

Deutscher Verzicht: Außenministerin Annalena Baerbock gab erst Anfang November zu Protokoll, dass sie für einen begrenzten Zeitraum auf einen deutschen EU-Kommissar verzichten würde. Die Frage ist, und diese Woche habe ich sie Lührmann – vor dem Europaparteitag der Grünen – und Tripodi gestellt: Werden solche Vorschläge im Wahlkampf diskutiert werden? Oder verschweigt man sie lieber und macht dann einfach?

Italienische Deutlichkeit: Beide Regierungen wollen verhindern, dass solche Reformen von Nationalisten kleingeredet werden, bevor sie überhaupt Gestalt annehmen konnten. Während Lührmann etwas mehr dazu neigte, der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie notwendig sind, aber auch darauf verwies, dass der Vertrag von Lissabon viele potenzielle Zumutungen schon in sich trage, blieb Tripodi klar: Die Aufgabe nationaler Souveränität werde sie erst diskutieren, „wenn die Wahllokale geschlossen sind.“

Zitat des Tages

Ich will jetzt nicht den Bundeskanzler zitieren, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) am Dienstagabend bei Markus Lanz auf die Frage, ob er persönlich hinter der Regierungsentscheidung stand, die Schuldenbremse einzuhalten und den Notstand nicht auszurufen

Deutschland in Daten

Diese Länder sind am höchsten verschuldet
in Kooperation mitStatista

Zu guter Letzt

Nie wieder? Die gestrigen Durchsuchungen bei Mitgliedern und Anhängern der verbotenen Vereinigungen Hamas und Samidoun dauerten am Abend an, wie das Bundesinnenministerium mitteilte. So viel zum islamistischen Antisemitismus.

Viele Fragen: „Alle Erkenntnis beginnt mit den richtigen Fragen“, schreibt mein Kollege Michael Ebert, Chefredakteur des SZ-Magazins. Bekannte Jüdinnen und Juden aus Deutschland haben für das Magazin Fragen formuliert, die wir uns alle stellen können.

Allen voran die große Charlotte Knobloch. Sie fragt: Wären Sie nach 1945 in Deutschland geblieben? Wen weisen Sie sonst noch darauf hin, dass Völkerrecht zu gelten habe? Und: Was meinen Sie, wenn Sie „Nie wieder“ sagen?

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Florian Eder

Leiter SZ Dossier

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Valerie Höhne

Leitende Redakteurin