Russische Desinformation spielte bei der Europawahl gar keine so große Rolle – und dennoch lief für den Kreml alles nach Plan.
Kreml, KI, Krah: Der eine große digitale Anschlag auf die EU-Wahl blieb offenbar aus – es gab etwa kein Fake-Video, in dem Ursula von der Leyen sich zum Islam bekennen würde. Die virale Lüge vom Wahlbetrug, mit der etwa Donald Trump nach seiner Niederlage im Januar 2021 einen Gewaltmarsch auf das US-Kapitol entfachte, hatte hier auch kein Echo. „Kurz vor der Wahl haben wir keine nennenswerten Vorkommnisse im Zusammenhang mit Desinformation festgestellt“, schreibt Tommasso Canetta, der Koordinator des Experten-Netzwerks European Digital Media Observatory.
Geplant aber hatte der Kreml: Vergangene Woche zitierte die Zeit aus Redaktionsplänen des russischen Staatssenders RT DE aus dem Jahr 2021, in denen Journalisten unter anderem dazu angewiesen wurden, die Grünen in ein schlechtes Licht zu rücken. Vor über einem Jahr waren der Washington Post interne Kreml-Dokumente zugespielt worden, aus denen hervorging, dass Russland durch Social-Media-Kampagnen und direkte Kontakte versuchte, eine kremlfreundliche Front aus AfD und Sahra Wagenknecht zu züchten.
Und heute: Die Grünen sind nach der Wahl schwer beschädigt. Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij diese Woche im Bundestag um westliche Unterstützung bat, blieben sowohl AfD- als auch BSW-Politiker seiner Rede fern. Die Bilder, die dabei entstanden, dürften keine Wünsche offen lassen bei Putins Propagandisten. Vielleicht sah der Kreml also schlicht keinen Bedarf, aggressiv einzugreifen in den Endspurt des Europawahlkampfes.
Unter dem Radar: Zurückhaltung könne man Moskau trotzdem nicht vorwerfen, sagte Julia Smirnova, die beim Thinktank Institute for Strategic Dialogue Russlands Desinformation analysiert. Kreml-nahe Quellen hätten in sozialen Netzwerken, etwa über bezahlte Werbeanzeigen, Wahlaufrufe für das BSW und die AfD verbreitet, sagte Smirnova. Mit Voice of Europe hatten europäische Geheimdienste im April zudem ein Propaganda-Netzwerk ausgehoben, das einen Europaabgeordneten der AfD offenbar sogar dafür bezahlt hatte, die Kreml-Narrative zu verbreiten.
Problematisch: Die Öffentlichkeit gewöhne sich zunehmend an Russlands Einfluss. „Früher ging der Kreml sehr verdeckt und subtil vor, etwa als er versuchte, die US-Wahl von 2016 durch Hacker-Angriffe auf die Demokratische Partei, manipulierte Tweets und Facebook-Anzeigen zu beeinflussen“, sagte Smirnova. Die Strategie habe sich geändert: Nach den Taurus-Leaks etwa, als die Bundeswehr im März durch ein mitgeschnittenes Webex-Gespräch international blamiert wurde, habe der Kreml gar nicht erst versucht zu verheimlichen, dass er es war, der das vertrauliche Gespräch abgehört und ins Netz gestellt hatte, sagte Smirnova. „Russland will zeigen, dass es unsere Meinungen, unsere Wahlen beeinflussen kann.“
Auch die kommenden Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern dürfte Russland einmal mehr ins Visier nehmen. In der Vergangenheit hätten sich etwa russische Staatsmedien schon auf Wahlen in den Ländern eingeschossen, sagte sie, etwa auf die bayerische Landtagswahl von 2018.