Das Herz Europas hat eine außergewöhnliche Eigenschaft: Es kann wandern. „Derzeit schlägt Europas Herz vor allem in Georgien“, schreibt uns der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses Michael Roth (SPD) aus Tiflis. Heute soll im Parlament über das scharf kritisierte „Agenten“-Gesetz abgestimmt werden. Seit Wochen gibt es dagegen große, friedliche, proeuropäische Demonstrationen.
Worum es geht: Wenn es nach der Regierung geht, sollen sich Organisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Finanzmittel aus dem Ausland erhalten, künftig als „Agenten ausländischer Einflussnahme“ registrieren lassen. Parallelen zu einem ähnlichen Gesetz in Russland sind schwer zu übersehen. Russland benutzt das Gesetz, um gegen Oppositionelle und die Zivilgesellschaft vorzugehen. Moskau, wer hätte es gedacht, verteidigte das georgische Gesetz, berichtet Gabriel Rinaldi.
Eindrücke aus Tiflis: Roth reiste gestern mit Kollegen aus Litauen, Tschechien, Polen und Finnland nach Tiflis, um „Solidarität mit der überwältigenden proeuropäischen Mehrheit im Land zu zeigen“. Er habe Gespräche mit der Zivilgesellschaft, der Opposition und der Staatspräsidentin geführt, die 2018 als unabhängige Kandidatin gewählt wurde. Die Regierung sei dazu nicht bereit gewesen. Tiflis, findet Roth, sei die wahre Hauptstadt Europas. Trotz zahlreicher gewaltsamer Übergriffe und Einschüchterungsversuche gingen die Proteste weiter.
Fingerspitzengefühl gefragt: Das Gesetz mache den Kandidatenstatus der EU substanzlos. „Beitrittsverhandlungen mit der EU können auf dieser Grundlage nicht geführt werden“, sagte Roth. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte während der Regierungspressekonferenz, Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe intern und auf einer Pressekonferenz mit dem georgischen Ministerpräsidenten Irakli Kobachidse vor rund einem Monat deutliche Kritik am Vorhaben geübt.
Union warnt die Bundesregierung: Knut Abraham, Außenpolitiker der Union, mahnte dennoch zur Vorsicht. „Die Bundesregierung und die EU müssen bei Konsequenzen darauf aufpassen, nicht unwillentlich das Geschäft Moskaus zu betreiben“, sagte Abraham SZ Dossier. Dort komme nichts gelegener als eine Entfremdung zwischen Georgien und Europa. „Konsequenzen müssen also den De-facto-Machthaber-Oligarch Bidsina Iwanischwili und sein Umfeld treffen, nicht das gesamte Land.“