Dass die etablierten Parteien es nicht geschafft haben, die Dominanz der AfD im Netz zu brechen, liege auch daran, dass ihr Rückstand so groß war, so der Verdacht von Tim Herrmann, früher mal Kampagnenleiter bei der SPD, heute freier Kommunikationsberater.
Soziale Medien spielten für Parteistrategen eine nachgeordnete Rolle: „Das Leitmedium im Wahlkampf bleibt das Plakat, der größte Teil der Wahlkampfbudgets fließt nach wie vor in den Plakatwahlkampf“, sagte er. Denn Wahlplakate könnten im Laufe einer Kampagne sogar mehrere Milliarden Mal angeschaut werden.
Zum Vergleich: Ein TikTok-Video der SPD erzielt selten mehr als 10.000 Views. Aktionen wie die Kampagne "Reclaim Tiktok" wurden von zivilgesellschaftlichen Organisationen ins Leben gerufen, nicht von den Parteien selbst. „Anders als die AfD schaffen es die demokratischen Parteien nicht, im Netz Narrative zu prägen, die dann auch gesamtgesellschaftliche Debatten bestimmen,“ sagte der Kommunikationsexperte Herrmann.
Hegemonie von rechts: Die Anne Frank Stiftung, die diese Woche eine Studie zu rechten Influencern auf der Plattform veröffentlichte, spricht von einer „rechten Hegemonie im deutschsprachigen TikTok“. Unsere Datenanalyse zeigt, dass das nicht nur auf die Bundesrepublik zutrifft. Die Dominanz der Rechten und Rechtsextremen im Netz, sie aber kein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen: In 14 Mitgliedstaaten, in dem die vorherrschende rechte Partei – oder im Fall von Deutschland deren Fraktion – einen Tiktok-Account hat, sammelt dieser mehr Likes und Views ein als Accounts anderer Parteien.
Eine Auswertung der Total Views vom 1. April bis 6. Juni zeichnet ein deutliches Bild: Unter allen offiziellen Partei-Accounts haben die rechtsradikalen Schwedendemokraten die meisten Views eingesammelt, rund 26,2 Millionen. Den zweiten Platz – wenn auch mit knapp 15,1 Millionen Views deutlich dahinter – belegt Vox, Spaniens rechtspopulistische Partei. Gefolgt von Polens ultrarechter Partei Konfederacja (12,4 Millionen), den französischen Rechtspopulisten vom Rassemblement National (10,9 Millionen), Ungarns Fidesz (7 Millionen) und der Fratelli d’Italia (6 Millionen).
Die deutschen Rechten so: Der Account der AfD-Bundestagsfraktion hat in den vergangenen zwei Monaten rund 2,6 Millionen Views gesammelt. Das ist deutlich mehr als die innerdeutsche Konkurrenz hat – die CDU kommt nur auf rund 955.000 Views, der Bundestagsfraktions-Account der SPD auf 946.000. Doch im europäischen Vergleich landet die AfD damit nur auf Platz 14.
Auch beim Top-Personal ist die AfD in Europa nicht tonangebend. Als Posterboy der europäischen Rechten gilt der Franzose Jordan Bardella, der auf TikTok 1,3 Millionen Follower zählt. Allein in den vergangenen zehn Wochen hat er dort mit seinen Videos rund 157 Millionen Aufrufe und mehr als 15,5 Millionen Likes erzielt. Zum Vergleich: Die AfD Parteivorsitzende Alice Weidel (290.300 Follower) kam im selben Zeitraum auf 577.000 Views und knapp 40.000 Likes.
Im Netz liegen die Rechten uneinholbar vorn – nicht aber auf deutschen Straßen. Die Zahl und Position der Plakate, die jede Partei aufstellen darf, ist streng reguliert. Die Werbefläche nutzen die etablierten Parteien dann auch für eine Abgrenzung zur AfD: „Einigkeit, gegen Rechts, für Freiheit“, verlautet ein Plakat der Grünen; „Migration steuern, sonst machen es die Falschen“, warnt die FDP. Gelitten habe dabei die Abgrenzung der etablierten Parteien untereinander, sagt der Kommunikationsexperte Tim Herrmann: „Die Ziele, die demokratische Parteien im Wahlkampf formuliert haben, waren deckungsgleich: Frieden, Sicherheit, Wohlstand.“ Auch über Europa sei zwar viel geredet worden – eine sichtbare Auseinandersetzung darüber, wie sich etwa Investitionen finanzieren, EU-Institutionen reformieren ließen, seien die Parteien aber schuldig geblieben.