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Briefing

Platz der Republik,

Dreikampf um die Mitte

Guten Morgen. Friedrich Merz gibt heute seine erste Sommerpressekonferenz als Bundeskanzler. Für einen Freund des klaren Wortes ist das Gelegenheit und Herausforderung zu erklären, was ihn in den ersten Monaten im Amt angetrieben hat. Und was ihn dieser Tage umtreibt: außenpolitisch die Verständigung mit Donald Trump über Waffenlieferungen an die Ukraine. Innenpolitisch belastet die gescheiterte Wahl einer Verfassungsrichterin Regierung und Fraktion.

Den Eindruck, den Merz zerstreuen wollen wird: dass er sehr viel improvisierter regiert, als er selbst glauben machen möchte. Dass er einen Politikwechsel versprochen hat, sich nun aber bei Angela Merkels Methode bedient: durchkommen, irgendwie. Und auch dies ist in seiner Partei längst Thema: ob sein Wille, Bundeskanzler zu werden, nicht viel größer war als die Vorstellung davon, was danach kommt.

Willkommen am Platz der Republik.

1.

Die Nato treibt die von US-Präsident Donald Trump angestoßene Lieferung weiterer Patriot-Flugabwehrsysteme an die Ukraine nun offiziell voran. „Die Anweisung, die ich erhalten habe, lautet, so schnell wie möglich vorzugehen“, sagte der neue militärische Oberbefehlshaber der Allianz, Alexus Grynkewich, laut Reuters gestern.

Geschwindigkeit ist kein Selbstzweck: Die Ukraine steht derzeit unter massivem Beschuss – die Angriffe gehören zu den schwersten seit Beginn des Kriegs. „Wir arbeiten sehr eng mit den Deutschen bei der Patriot-Verlegung zusammen“, sagte Grynkewich. Welche Systeme konkret verlegt werden, blieb vorerst aber offen.

Vom Missverständnis zur Mission: Tatsächlich war der Deal wohl so komplex, wie es die Verwirrung um seine Umsetzung schon vermuten ließ. Der Bundeskanzler hatte die Initiative bei einem Telefonat mit Donald Trump vergangene Woche ergriffen. Auch Norwegen wollte sich von Anfang an beteiligen – reagierte aber zurückhaltend, als Trump und Nato-Generalsekretär Mark Rutte das Vorhaben Anfang dieser Woche öffentlich machten – und nicht etwa bei einem baldigen Besuch von Premierminister Jonas Gahr Støre in Berlin. Weitere Mitglieder der neuen Koalition wurden ebenso überrascht, wollen sich aber konstruktiv einbringen: Diplomatisch wurde improvisiert – operativ will die Nato jetzt schnell sein.

2.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat davor gewarnt, eine überdrehte politische und mediale Öffentlichkeit weiter zu befeuern.
„Die permanente Lautstärke, der rüpelhafte Ton, die ständig neuen Empörungswellen, der tägliche Wettbewerb um größtmögliche Skandalisierung des Banalen – all das führt nicht dazu, dass wir uns besser zurechtfinden, sondern dass wir uns schlechter fühlen“, sagte er.

Glückwunsch und Mahnung. Steinmeier hielt der Süddeutschen Zeitung gestern in München die Festrede zum 80. Geburtstag. Sie war mehr als ein Geburtstagsgruß, sie war ein Appell an die eigene Zunft ebenso wie an die Medien: nicht jede Aufregung mitzumachen, nicht jede Erregung weiterzudrehen. Die „mediale Dauerapokalypse“ sei, so der Bundespräsident, „Gift für unser Miteinander – und für unsere Demokratie“.

Leider wahr: Die von Steinmeier beschriebene Aufmerksamkeitslogik war lange eine harte Währung in der politischen Kommunikation. Inzwischen wächst das Bewusstsein, dass diese Logik am Ende beiden Seiten schaden kann: der Politik wie dem Journalismus.

Steinmeier beschrieb das Gegenmodell: einen Journalismus, der „verlässlich, sachlich, wahrheitsgemäß“ informiert, „Fakten prüft, Lügen entlarvt“ – und „beginnt zu zweifeln, wenn alle in eine Richtung blasen“. Differenzierung statt Zuspitzung, Orientierung statt Erregung: Für diesen Journalismus, so Steinmeier, brauche es Redaktionen, die ihr Handwerk verstehen und Journalistinnen und Journalisten, „die mit Leidenschaft bei der Sache sind“.

Seine Bitte: „Füttern Sie nicht die Maschine, die am Ende uns alle zermürbt.“

3.

Vier von zehn Deutschen finden, dass die Bundesregierung beim Klimaschutz nicht weit genug geht. Das zeigt eine repräsentative Umfrage von YouGov im Auftrag von SZ Dossier. Demnach sagen 41 Prozent, die Maßnahmen der Regierung gingen nicht weit genug, 21 Prozent empfinden sie als übertrieben. Lediglich 27 Prozent finden das Regierungshandeln im Großen und Ganzen richtig.

Auffällig sind die Unterschiede entlang der Parteipräferenz. Besonders unzufrieden mit der bisherigen Klimapolitik sind erwartungsgemäß Anhängerinnen und Anhänger der Grünen: 88 Prozent von ihnen fordern mehr Maßnahmen. Auch bei Wählerinnen und Wählern der Linken überwiegt die Kritik mit 71 Prozent. In der Union überwiegt mit 47 Prozent die Zustimmung zum bisherigen Kurs. Die AfD-Anhängerschaft lehnt Klimapolitik klar ab: 58 Prozent finden, die Maßnahmen gingen zu weit – der höchste Wert unter allen Parteien.

Zu viel oder zu wenig Klimaschutz?

in Kooperation mit

YouGov

Besonders auffällig: 58 Prozent der SPD-Wählenden halten die Maßnahmen der Bundesregierung für unzureichend, obwohl ihre Partei Teil der Regierung unter Kanzler Friedrich Merz ist. Zugleich zeigt sich: Viele Menschen können die Politik der Regierung nicht klar einordnen. Elf Prozent der Befragten antworten mit „weiß nicht“, wenn sie nach ihrer Einschätzung zum Klimakurs gefragt werden. Es ist ein vergleichsweise hoher Wert.

Wer mehr Klimaschutz will – und wer nicht: Der Wunsch nach ambitionierterer Klimapolitik zeigt sich auch bei der Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung des Themas: Unter Befragten, die Klima- und Umweltschutz zu den drei wichtigsten politischen Zielen zählen, halten 85 Prozent die Regierungspolitik für unzureichend. Bei denjenigen, denen Klimaschutz nicht wichtig ist, äußern sich hingegen nur 31 Prozent so; 26 Prozent meinen, es werde zu viel getan.

Es war die bundespolitisch derzeit eher unsichtbare FDP, die in Bonn den Wahlkampf eröffnet hat. Mitte Juni waren die Liberalen die ersten, die Plakate an zentralen Stellen wie der Kennedybrücke über den Rhein aufhängten – nur Stunden später gefolgt von CDU und Grünen. Am 14. September wird in Nordrhein-Westfalen gewählt, und weil das bevölkerungsreichste Bundesland dann den letzte größeren Stimmungstest dieses Jahres liefert, bekommt die Kommunalwahl auch bundespolitische Bedeutung.

In NRW geht es dabei weniger um die Ränder als um die Mitte: Die CDU war bei allen Wahlen der vergangenen fünf Jahre stärkste Kraft und prägt vor allem die Landkreise. In den Großstädten liefern sich CDU, SPD und Grüne ein Dreierduell. Laut einer aktuellen Umfrage der NRW-Tageszeitungen müssen alle drei mit Verlusten im Vergleich zu 2020 rechnen.

Besonders spannend ist das Rennen in Köln, der viertgrößten Stadt Deutschlands. Nach zehn Jahren tritt die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker, unterstützt von CDU und Grünen, nicht mehr an. Die Grünen setzen auf die Landtagsvizepräsidentin Berivan Aymaz, aktiv in der kurdischen Gemeinde, die auf Vielfalt und soziale Themen setzt. Die CDU schickt Baudezernent Markus Greitemann ins Rennen – keine einfache Position angesichts wiederkehrender Bauskandale und explodierender Kosten, zuletzt bei der Opernsanierung.

Die SPD, die bei der Bundestagswahl zwei der vier Kölner Wahlkreise gewann, nominiert Torsten Burmester, den bisherigen Vorsitzenden des Deutschen Olympischen Sportbundes und früheren Referenten von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Mit ihm will die Partei an frühere Erfolge in der Stadt anknüpfen. Weitere Kandidierende anderer Parteien und Einzelpersonen machen die Ausgangslage zusätzlich unübersichtlich.

Auch die Studentenstadt Münster wird spannend: Dort tritt CDU-Oberbürgermeister und Städtetagspräsident Markus Lewe nicht mehr an. Schon 2020 hatte er sich in der Stichwahl nur knapp gegen einen Kandidaten der Grünen durchgesetzt. „Ich will diese Wahl gewinnen“, sagt Grünen-Landeschef Tim Achtermeyer SZ Dossier. Seine Partei, frei vom Berliner Koalitionsdruck, setzt auf Klimaschutz als „Frage der Lebensqualität“.

Die SPD wiederum will „Rathäuser halten und zurückerobern“ und sieht berufstätige Familien als zentrale Zielgruppe, so Landesgeneralsekretär Frederick Cordes. Die CDU wird genau hinsehen, ob sie in früheren SPD-Hochburgen wie Essen oder Oberhausen weiter Stadtoberhäupter stellen kann – neben der Landeshauptstadt Düsseldorf. Die SPD möchte Dortmund, Bielefeld und Mönchengladbach verteidigen, die Grünen unter anderem Aachen und Bonn.

Richtig los geht der Wahlkampf erst im August – vielerorts hängen noch keine Plakate. Heikel wird die Zeit zwischen der Wahl am 14. September und den Stichwahlen für Oberbürgermeisterinnen und Landräte zwei Wochen später. Dann müssen Koalitionen in oft zersplitterten Räten geschmiedet werden – nicht selten mit sechs oder mehr Parteien.

Wo zwei der drei großen Parteien in der Stichwahl stehen, wird die dritte Partei über eine Wahlempfehlung entscheiden müssen. Das passiert lokal, die Summe aber könnte Signale senden: Im Bund regiert die SPD mit der CDU, im Land die CDU mit den Grünen – klassische Lagerlogik hilft da wenig.

Bei der CDU gibt es gleichwohl Signale, eher den grünen Landespartner als die SPD zu schwächen. In Bonn etwa will CDU-Landtagsabgeordneter Guido Déus die grüne Oberbürgermeisterin Katja Dörner ablösen – und hofft auf SPD-Unterstützung. „Ich kämpfe für eine Mehrheit ohne die Grünen“, sagt Déus SZ Dossier. „Bei Themen wie Wohnungsbau und im sozialen Bereich gibt es viele Übereinstimmungen zwischen CDU und SPD.“ Dörner regiert bislang mit Grünen, SPD, Linke und Volt. Die CDU spekuliert, dass der SPD neue Wohnungen wichtiger sein könnten als Frischluftschneisen.

Selbst wenn Dörner sich gegen Déus durchsetzt, könnte das Regieren schwieriger werden. Eine geplante Kommunalreform soll Verfahren vereinfachen. Déus hätte sich dennoch eine Prozenthürde und die Abschaffung des zweiten Wahlgangs gewünscht – er kritisiert, dass Oberbürgermeister und Landräte durch geringere Beteiligung im zweiten Wahlgang teils mit weniger Stimmen gewählt würden als im ersten Durchgang.

Die drei großen Parteien hoffen, die AfD kommunalpolitisch kleinzuhalten. Landesweit kam sie bei der Bundestagswahl auf 16,8 Prozent. „Die AfD hat kommunalpolitisch nichts drauf, sie fällt vor allem durch Ahnungslosigkeit und Faulheit auf“, sagt Achtermeyer. Déus hofft, dass sie in Bonn unter fünf Prozent bleibt. Und Cordes kündigt an: „Gegen die AfD würden in Stichwahlen alle demokratischen Parteien zusammenstehen.“

von Peter Ehrlich

4.

Lohnlücke: Eingewanderte verdienen in Deutschland im Schnitt 19,6 Prozent weniger als Einheimische – nicht zuvörderst, weil sie für gleiche Arbeit schlechter bezahlt würden, sondern weil ihnen der Zugang zu gut bezahlten Branchen und Berufen oft versperrt bleibt. Das zeigt eine internationale Vergleichsstudie, für die Forschende unter anderem vom IAB Daten von 13,5 Millionen Beschäftigten in neun Einwanderungsländern ausgewertet haben.

Sprache ist ein Schlüssel: Auch in der zweiten Generation besteht in Deutschland noch eine Lohnlücke von 7,7 Prozent. Für die Politik ergibt sich daraus ein Auftrag: Wer Teilhabe will, muss Barrieren abbauen – durch bessere Sprachförderung, Anerkennung ausländischer Abschlüsse und gezielte Qualifizierungsangebote. Integration heißt nicht nur gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sondern Zugang zu besserer Arbeit.

5.

Zumutung erlaubt, Megafon verboten: Ein Pro-Pali-Protestcamp darf zurück ans Kanzleramt, aber nur mit Zimmerlautstärke. Das Berliner Verwaltungsgericht gab einem Eilantrag der Aktivisten teilweise statt. Die Arbeitsfähigkeit des Kanzleramts sei durch die Demonstranten zwar „erheblich eingeschränkt“ gewesen, eine Verlegung aber nicht nötig. Lärmauflagen hätten gereicht. Jetzt gilt: keine Lautsprecher, keine Trommeln, keine Megafone. Die Polizei legte umgehend Beschwerde ein. Fortsetzung folgt, in gedämpfter Tonlage.

Wir zahlen den meisten Länderfinanzausgleich, jetzt wollen uns andere Länder auch noch vorschreiben, wann wir Ferien machen sollen. Das lassen wir nicht zu.

Markus Söder hält die Feriendebatte am Leben, indem er sie für beendet erklärt

Das Kultusministerium in Stuttgart legt erste Spuren zur Aufklärung des Bildungskrimis: Erst jetzt fiel auf, dass 1440 etatisierte Vollzeitstellen zwar im System, aber nicht in der Wirklichkeit eingeplant waren. Der Grund für die Panne: ein IT-Fehler, der offenbar seit 2005 unbemerkt blieb – und seither einfach weiterlief. Vielleicht war das Programm „DIPSY-Lehrer“ einfach ein bisschen tipsy.

Die grüne Kultusministerin Theresa Schopper zeigte sich im SWR „erschrocken und schockiert“, versprach „Aufklärung mit Volldampf“ und warnte: Anders als im „Tatort“ lasse sich die Schuld nicht einfach einer Person zuweisen. Das Bittere, politisch: Es ist eine Entdeckung, von der niemand etwas hat. Die Ministerin hätte längst für bessere Unterrichtsabdeckung sorgen können. Der Finanzminister wusste gar nicht, was er all die Jahre gespart hat.

Für Lehramtsabsolventinnen und -absolventen tun sich nun neue Chancen auf. Und eine Lehre bleibt auch: 130 000 Lehrkräfte teilten sich 95 000 Stellen, sagte Schopper. Da seien die Dinge eben komplex. Das heißt: Das durchschnittliche Deputat im Südwesten liegt bei nur 73,1 Prozent einer Vollzeitstelle. Wer wollte, hätte die Lücke längst schließen können – wenn Menschen im Lehrberuf nicht geradezu dazu eingeladen würden, Teilzeit zum Normalfall zu machen.

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