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Briefing

Platz der Republik,

Digitale Souveränität ohne Illusionen

Guten Morgen. Wieder eine wilde Woche voller unangenehmer Einsichten für die Berliner Politik: Die Hoffnung, Donald Trump durch Anrufe, einzeln oder zusammen mit den Bros aus London und Paris, eng an Europa zu binden, hat sich diesmal recht gründlich zerschlagen. Das macht die Vorbereitung auf den Nato-Gipfel in Den Haag Ende Juni umso schwieriger, in allen europäischen Regierungskanzleien.

Von den Szenarien, die Diplomaten durchspielen, sind zwei für die europäischen Alliierten besonders unattraktiv: Dass Trump mit einem Knall die Nato verlässt – oder drinbleibt und von innen heraus seine Politik durchsetzt, wonach Europa für die eigene Sicherheit ausschließlich selbst zuständig ist.

Willkommen am Platz der Republik.

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1.

Der Bundeskanzler hat Litauen Beistand versprochen und sich damit auch eigene große Aufgaben gestellt: „Gemeinsam mit unseren Partnern sind wir entschlossen, das Bündnisgebiet gegen jede, gegen jede Aggression zu verteidigen“, sagte Friedrich Merz in Vilnius. „Die Sicherheit unserer baltischen Verbündeten ist auch unsere Sicherheit.“

Aufgabe Aufrüstung: Zur allgemeinen Ernüchterung hatte der Bundeskanzler in dieser Woche eine neue Volte des US-Präsidenten in der Russlandpolitik zur Kenntnis nehmen müssen – ein weiterer ernster Hinweis darauf, was für Deutschland in den kommenden Jahren ansteht: sich zunehmend und schrittweise selbst in die Lage zu versetzen, auch militärisch so handlungsfähig zu werden, dass die Beistandsgarantie einen Wert hat.

Bedrohungslage: Merz war zur Indienststellung der neuen, dauerhaft in Litauen aufgestellten Brigade angereist. „Liebe Litauerinnen und Litauer, Sie können sich auf uns, Sie können sich auf Deutschland verlassen“, sagte er – in ernster Lage: Russlands aggressiver Revisionismus „bedroht unsere gemeinsame Sicherheit in Europa und im gesamten euro-atlantischen Raum“, sagte er. „Der Schutz von Vilnius ist der Schutz von Berlin.“

Reisevorbereitungen: Eine persönliche Begegnung mit Trump steht demnächst an. Merz hat einen baldigen Besuch in Washington bereits angekündigt. Es ist kein Selbstläufer für den Kanzler, der als alter Transatlantiker mit vergleichsweise großer Enttäuschung über Trumps Abwendung von Europa rechnen muss. Mit Launen des Gastgebers sowieso: Der jüngste Besucher, Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, hat wieder einen der zanksüchtigeren Tage erwischt.

2.

Probleme lassen sich nicht lösen, wenn man sie nicht offen anspricht. Das gilt auch für muslimische Homofeindlichkeit: „Ich finde es grundfalsch, das zu tabuisieren“, sagte der frühere Grünen-Abgeordnete Volker Beck SZ Dossier. Angst vor Pauschalisierung oder davor, „Narrative“ zu bedienen, dürfe nicht zum Schweigen führen, sagte er: „Kritik am Islamismus ist kein Rassismus.“

Mitverantwortlichkeit: Beck, heute Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und Mitglied der Deutschen Islamkonferenz, ist immer ein Kämpfer für die Rechte von Schwulen und Lesben gewesen. Er macht die deutsche Islampolitik mitverantwortlich für die Lage, über die in Berlin diese Woche viel gesprochen (und wenig gesagt) wurde – auch dank der Berichterstattung der SZ über einen Lehrer, der seit seinem Coming-out an einer Brennpunktschule systematisch gemobbt wird.

Für Beck Symptom eines lange verdrängten Problems. „In der Islampolitik wurde alles falsch gemacht, was man falsch machen kann“, sagte er. Jahrzehntelang hätten die Regierungen konservativen Islamverbänden wie DITIB oder Millî Görüş Einfluss gewährt.

Politisches Wegsehen: Dass Antisemitismus und Homophobie in solchen Milieus „verbreitet oder zumindest offen geduldet“ würden, sei eine Folge politischen Wegsehens, sagte Beck. „Wir wollen mit euch reden – aber wir reden da nicht drum herum“, wäre seine Devise. Stattdessen seien liberale muslimische Initiativen wie der Liberal-Islamische Bund jahrelang ignoriert worden und würden kaum unterstützt. „Aufklärung ist möglich – aber sie findet kaum statt.“

Fundament Grundgesetz: Beck forderte in jeder Religionspolitik ein schlichtes Prinzip ein. „Das Maß ist das Grundgesetz“, sagte er. Wer dieses Fundament infrage stelle, dürfe kein Partner des Staates sein. „Wer die grundlegenden Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes gefährdet, kann kein Partner im Rahmen unseres kooperativen Religionsmodells sein“, sagte Beck. Doch diesen Grundsatz missachteten viele Bundesländer bei ihren Verträgen mit Islamverbänden.

Ein Anfang sei gemacht: Der aktuelle Koalitionsvertrag sehe erstmals mehr Transparenz bei der Finanzierung islamischer Organisationen vor. „Das ist der erste Schritt – aber es reicht nicht.“

3.

Raumfragen sind Machtfragen – und als solche ist sie nun entschieden worden: Im Ältestenrat des Bundestags hat die AfD, als zweitgrößte Fraktion, gestern keine Mehrheit für ihren Anspruch auf den zweitgrößten Sitzungssaal bekommen. Die geschrumpfte SPD hatte sich dennoch allerhand launige Argumente einfallen lassen, um die Entscheidung als eine in der Sache begründbare darzustellen und ihren Saal zu behalten.

Du gehörst zu mir: Die SPD hob auf ihren Status als Regierungspartei ab. Es müssten künftig andauernd Referentinnen und Referenten aus Ministerien vorsprechen, womöglich auch Minister! Sie hob auf koalitionäre Absprachen ab: Nicht auszudenken, wie kompliziert es würde, wäre der Saal der Union nicht der direkt nebenan.

Wie mein Name an der Tür: Otto Wels wurde auch bemüht, der Name, der das Türschild ziert, das nach Auskunft der Bundestagsverwaltung jederzeit ummontiert werden könnte – der strittige Raum als solcher heißt bloß 3S 001. Aber die Vorstellung, dass AfD in diesem Raum tagt, „war für meine Fraktion und mich und im Übrigen auch für die Familie von Otto Wels unerträglich“, sagte der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese. Er sei nun sehr erleichtert, sagte er nach dem gewonnenen Machtkampf.

Rechtsmittel noch ungenannter Art: Wieses Äquivalent von der AfD, Bernd Baumann, kündigte „rechtliche Auseinandersetzungen“ an und sagte: „Mit allen Mitteln gehen wir dagegen vor, natürlich.“

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Wenn Eva Maydell über den technologischen Wandel spricht, dann spricht sie selten über Technik. Die Europaabgeordnete, eine führende Digitalpolitikerin der Fraktion der Europäischen Volkspartei, sieht weit mehr als wirtschaftliche Transformation: Für sie ist es ein politischer Lackmustest – für Europas Fähigkeit, aus Routinen auszubrechen und Zukunft anzugehen.

„Wir brauchen eine ehrliche Bestandsaufnahme“, sagte Maydell im Gespräch diese Woche in Brüssel. „Wo liegen unsere Stärken, wo sind wir abhängig, wo sollten wir kooperieren – und wo müssen wir eigene Fähigkeiten aufbauen?“ Für sie ist klar: Eine echte europäische Technologiestrategie braucht Mut zur Auswahl und Lücke. „Ich glaube nicht an eine Strategie, die jede Technologie und jede Stufe der Wertschöpfung priorisiert. Eine echte Strategie braucht Fokus – und eine klare Folgenabschätzung und Wirkungsanalyse.“

Der effizienteste Weg zur technologischen Souveränität, sagte Maydell, liegt nicht in der symbolischen Selbstbehauptung, sondern im klugen Einsatz vorhandener Stärken. „Wir sollten unsere bestehenden Industrien stärken, indem wir KI gezielt darin anwenden. Das kann uns schnell wettbewerbsfähiger machen.“

Sie sieht ein strukturelles Defizit: Europas Innovationspolitik bleibt oft bei Start-up-Romantik stehen. „Wir reden ständig über Start-ups, aber kaum über Skalierung. Dass die Kommission jetzt endlich darüber nachdenkt, privates Kapital besser zu mobilisieren, ist längst überfällig.“ Es gehe nicht nur um staatliche Gelder, sondern um intelligent organisierte Finanzierungsmodelle – Pensionsfonds, Versicherungen, Family Offices. „Nicht alles hängt von einer Investition über 500 Milliarden Euro ab. Viele Modelle brauchen gar nicht diese Größenordnung an Finanzierung.“

Trotz aller Investitionen sei Europas Zugang zu Technologie noch immer geprägt von einem überkommenen Mindset. „Die Art, wie wir Tech in Europa regulieren, ist immer noch im alten Denken verhaftet. Technologie-Regulierung verlangt heute einen grundlegend neuen Denkansatz in den Institutionen.“ Denn was sich heute vollziehe, sei nicht nur eine technologische, sondern eine humanistische Revolution.

„Digitalisierung verändert nicht nur Märkte – sie verändert auch die Erwartungen an Politik.“ Der klassische Gesetzgebungsprozess greife hier zu kurz. „Uns fehlen Räume für Diskussionen jenseits des Gesetzgebungsverfahrens. Deshalb habe ich gemeinsam mit der Münchner Sicherheitskonferenz den ‚Council on the Future‘ gegründet.“ Dort geht es um vorausschauende Debatten: nicht nur über Technik, sondern über Gesellschaft, Werte und Wandel.

Der Blick in die USA verdeutlicht die Unterschiede. „Für amerikanische Tech-Konzerne ist das ein geopolitischer Wettbewerb – ein Krieg“, so Maydell. „Für uns ist KI ein Werkzeug, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Bürger zu schützen.“

Dieser Unterschied sei entscheidend: Während die USA in Kategorien nationaler Macht denken, ringt Europa um einen technologiepolitischen Weg, der mit seinen Werten vereinbar ist.

Das allerdings verlange mehr als neue Gesetze. „Wir müssen anerkennen, wo wir Fehler gemacht haben. Es geht nicht um ein weiteres Papier – es geht um Wirkung.“ Technologiepolitik kann nur gelingen, wenn sie sich auch selbst infrage stellt. „Politik ist heute nur noch glaubwürdig, wenn sie sich selbst reflektiert.“

Für Maydell bedeutet das: Weniger Output, mehr Substanz. „Wenn Europa Technologie mitgestalten will, muss es verstehen, wie tiefgreifend sie unsere Gesellschaft beeinflusst. Sonst bleiben wir Zuschauer in einem Spiel, das andere bestimmen.“

von Florian Eder

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4.

Migrationspolitik vor Ort: Flüchtlingsunterkünfte sind heute weniger ausgelastet als vor einem Jahr. Der Focus hat die Fleißarbeit unternommen und die Bundesländer nach der Belegung ihrer Unterbringungseinrichtungen befragt. Von den gut 126 000 Plätzen, die in Deutschland zur Verfügung stehen, sind derzeit 55 Prozent belegt. Im Mai 2024 waren knapp zwei Drittel der Plätze belegt. Den deutlichsten Rückgang verzeichnete demnach Thüringen.

5.

Sie war’s: Für den früheren Bundesinnenminister Horst Seehofer lässt sich das Erstarken der AfD auf einen Grund zurückführen – dass er im Streit mit der damaligen Bundeskanzlerin nachgeben musste. „Seit der fatalen Fehlentscheidung von Angela Merkel 2015 die Grenzen aufzumachen oder durchlässig zu machen, haben wir das Aufwachsen der AfD. Sie sind dann in alle Parlamente eingezogen“, sagte Seehofer dem BR. „Deshalb ist die These von Angela Merkel ‚Ich habe die AfD nicht verdoppelt‘ etwas schräg.“

Ober sticht Unter: Merkel lehnte Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze ab. „Das war damals ihre Meinung und die vertritt sie ja heute noch“, sagte Seehofer und erinnerte an die Grenzen auch seiner Autorität: „Da können Sie Innenminister sein, solange Sie wollen: Wenn der Kanzler diese Grundlage nicht mitträgt, können Sie nichts machen.“

6.

Ausgabenwunsch: Der amtierende Bundesinnenminister Alexander Dobrindt hat den Kampf gegen Rechtsextremismus zu einer Kernaufgabe erklärt, deren Finanzierung gestärkt und nicht reduziert werden soll, sagte er in Berlin. Er meldet damit auch Vorstellungen zum Bundeshaushalt an, der derzeit aufgestellt wird.

Gesellschaft in der Pflicht: Gegen Radikalisierung könne man nicht nur aus seinem Ministerium heraus angehen, sagte Dobrindt. „Da spielt natürlich die Gesellschaft vor Ort, da spielen auch Schulen eine Rolle, da spielen auch Vereine eine Rolle, da spielt einfach das Miteinander vor Ort eine Rolle.“

Ich glaube nicht, dass wir die illegale Migration an der deutsch-österreichischen oder deutsch-polnischen Grenze abschließend bekämpfen können.

Angela Merkel warnt bei einer Lesung vor Alleingängen

„Nun, um es mal diplomatisch auszudrücken“, sagte Jeff Goldberg: „Donald Trump reagiert anders als die meisten Menschen auf Vorgänge. Man weiß nie, ob und was man abkriegt.“ Goldberg ist der Chefredakteur des Atlantic und hat in der Sache eine sehr eigene Erfahrung gemacht: Er war der Journalist, der versehentlich einer Chatgruppe des US-Verteidigungsminsters hinzugefügt wurde.

Nach der Veröffentlichung der Geschichte war die „stärkste Nachwirkung“, sagte Goldberg der SZ: „Dass mich Trump zu sich eingeladen hat. Das war das erste Mal seit Jahren, dass ich ihn persönlich getroffen habe.“ Das Atlantic-Interview mit Trump ist sehr erhellend (SZ-Plus-Abonnenten haben Zugriff, als Teil einer neuen Kooperation). Ebenso lohnend: Das Gespräch des Kollegen Andrian Kreye mit Goldberg. Schönes Wochenende!

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