Wer mit der Bahn vom Westen in den Berliner Hauptbahnhof einfährt, sieht kurz vorher auf der rechten Seite eine Großbaustelle. Das Bundeskanzleramt wird erweitert, neue Bürogebäude entstehen da, wo bisher ein Park und der Hubschrauberlandeplatz waren. Mit dem neuen Koalitionsvertrag ist fraglich, ob die zusätzlichen Arbeitsplätze überhaupt reichen werden, denn der künftige Kanzler Friedrich Merz zieht neue Aufgaben in die Regierungszentrale. Das Gebäude mit seiner weißen Betonfassade wird noch wichtiger.
Die auffälligste Änderung ist die Bildung eines Nationalen Sicherheitsrates, der sich aus dem Bundessicherheitsrat entwickeln soll. Der Bundessicherheitsrat ist ein geheim tagendes Gremium aus Kanzler und wichtigen Ministern, dessen Hauptaufgabe bisher die Genehmigung von Rüstungsexporten ist. Der Rat tagt in einem abhörsicheren Saal, die Minister müssen ihre Mobiltelefone vor Betreten abgeben. Der neue nationale Sicherheitsrat soll laut Koalitionsvertrag „die wesentlichen Fragen einer integrierten Sicherheitspolitik koordinieren“, Strategien entwickeln und die Lage beurteilen. Anders als bisher wird das nicht ohne Kommunikation nach außen gehen.
Ob es ähnlich wie in den USA auch einen nationalen Sicherheitsberater geben wird, ist unklar. Zumindest einen Koordinator auf Staatssekretärsebene könnte es geben. Der Rolle eines Sicherheitsberaters am nächsten kamen bisher die Leiter der außenpolitischen Abteilung im Kanzleramt, bei Olaf Scholz war das der Diplomat Jens Plötner. Allerdings dürften auch andere Abteilungen im Kanzleramt wie die für den Bundesnachrichtendienst zuständige Abteilung 7 gefragt sein. Die Details wird der Organisationserlass des neuen Kanzlers enthalten.
Aber bedeutet ein Nationaler Sicherheitsrat, den sich viele Außenpolitiker schon lange gewünscht haben, auch mehr Macht für den Kanzler? „Es ist eine Illusion zu glauben, dass man damit politische Konflikte im Vorfeld ausräumen kann“, sagte Hans-Peter Bartels von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) SZ Dossier. „Wenn etwas umstritten ist, landet es doch im Koalitionsausschuss“, so der frühere SPD-Politiker und Wehrbeauftragte. Im Koalitionsvertrag heißt es denn auch, der Bundessicherheitsrat werde „im Rahmen des Ressortprinzips“ weiterentwickelt.
Ressortprinzip heißt, dass jedes Ministerium erst einmal für seinen Bereich verantwortlich ist. Der Kanzler bestimmt die Richtlinien der Politik, aber eben nur, soweit es seine Koalitionspartner zulassen. Kanzler haben viel Macht, aber wenig im Vergleich zum amerikanischen oder französischen Präsidenten. Im extrem auf den Präsidenten zugeschnittenen französischen System sind die engsten Berater des Präsidenten, wie etwa der derzeitige Elysée-Generalsekretär Alexis Kohler bei Emmanuel Macron, mächtiger als die meisten Minister.
Im Koalitionsvertrag ist dagegen ausdrücklich festgehalten, dass in die „Frühkoordinierung“ neben dem Kanzleramt und dem für eine Sache zuständigen Ressort stets das Ministerium eingebunden wird, das die „A-Seite“ koordiniert. Die A-Seite ist in der Bundespolitik stets die SPD-Seite, das koordinierende Ressort heißt im Alltag Vizekanzleramt.
Diese Rolle wird wohl wie schon 2018 bis 2021 unter Olaf Scholz dem Finanzministerium zufallen, jedenfalls wenn Lars Klingbeil Vizekanzler und Finanzminister wird. Seit einigen Wahlperioden ist es üblich, dass die Kanzler-Stellvertreter eine zusätzliche Staatssekretärin oder einen Staatssekretär einstellen dürfen, als Gegenüber des Kanzleramtsministers und für die Koordination im Alltag.
Ebenfalls neu sind das geplante Nationale Lagezentrum und der Nationale Krisenstab. Das bisherige Lagezentrum im Kanzleramt ist im Wesentlichen dafür da – so ein Insider – „jede Telefonnummer in der Welt zu organisieren“ und im Falle von wichtigen Ereignissen Tag und Nacht den Chef des Kanzleramtes zu erreichen.
Auf akute Krisen wurde bisher immer wieder anders reagiert. 2015 etwa wurde der damalige Kanzleramtsminister Peter Altmaier zum Flüchtlings-Koordinator ernannt. Während der Corona-Pandemie gab es ein „Corona-Kabinett“ und mehrere Krisenstäbe, am wichtigsten aber waren die Bund-Länder-Gespräche von Merkel mit den Ministerpräsidenten. In das neue Lagezentrum, vermutet ein früherer Verantwortlicher, würden dann wohl Vertreter aller Ministerien entsandt, auch die Bundesländer sollen laut Koalitionsvertrag beteiligt werden: „Damit hätte Merz als Kanzler stets ein eigenes Lagebild“. Der nationale Krisenstab könnte laut Bartels die Schnittstelle von innerer und äußerer Sicherheit sein, etwa bei Drohnenangriffen auf Kasernen oder Industrieanlagen.
Die Konzentration im Kanzleramt bedeutet aber auch, dass Kanzler und Kanzleramtsminister in Krisen stets für die Öffentlichkeit im Mittelpunkt stehen und es schwerer fällt, bei Pannen auf die Minister zu verweisen. Und Sicherheitsrat wie Lagezentrum werden eine Infrastruktur brauchen, neue Mitarbeiter oder – wenn Experten aus den Ministerien abgeordnet werden – zumindest neue Büros. Am Anfang der Ära Merkel hatte das Amt unter 500 Mitarbeiter, jetzt sind es schon 900.
Außerdem hat die neue Koalition einen vierten Staatsminister mit eigenem Arbeitsbereich dem Kanzleramt zugeordnet – „für Sport und Ehrenamt“. Sollte dem Job etwa die bisherige Sportabteilung aus dem Innenministerium zugeordnet werden, dürfte der Platz auch im vergrößerten Kanzleramt nicht reichen. Aber das Innenministerium ist ja direkt nebenan, da könnten die Beamten auch mit neuem Chef in den alten Büros bleiben. Peter Ehrlich