Seitdem die Verlässlichkeit des Bündnispartners USA nicht mehr sicher ist, diskutiert Europa darüber, wie man die eigene Verteidigung stärken kann. Höhere Rüstungsausgaben, gemeinsame Beschaffung, ein Ukraine-Friedenseinsatz einer Koalition der Willigen – das alles ist schon auf dem Weg. Könnte am Ende gar eine europäische Armee stehen?
Nein, oder jedenfalls nicht so lange das Grundgesetz gilt, sagt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. „Die Realisierung einer europäischen Armee wäre auf der Basis des Grundgesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht zulässig“, so Papier im Interview mit SZ Dossier. Jeder Einsatz der Bundeswehr müsse zwingend vom Bundestag beschlossen werden.
Der Philosoph Jürgen Habermas hatte in der SZ die Frage gestellt, ob die Europäische Union (EU) global als selbständiger Machtfaktor wahrgenommen werden könne, solange jeder Mitgliedstaat über Aufbau und Einsatz seiner Streitkräfte letztlich souverän entscheide.
„Nur mit kollektiver Handlungsfähigkeit auch im Hinblick auf den Einsatz militärischer Gewalt gewinnt sie geopolitische Selbständigkeit“, schrieb Habermas. Laut Habermas könne dies auch im Rahmen einer „engeren Kooperation“ eines Teils der EU-Staaten geschehen. In jedem Fall müsse die Bundesregierung Integrationsschritte gehen, die die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel stets verweigert habe.
Papier hält dagegen, dass eine „Supranationalisierung“ der Streitkräfte unabhängig vom Willen der Regierung oder selbst des Bundestages unmöglich wäre. „Es geht nicht nur darum, dass die Bundesregierung einen Schritt gehen würde, den bisherige Regierungen bisher vermieden haben. Es geht um Hürden im Grundgesetz“, sagt Papier.
Gemeint sind Hürden, die selbst eine Änderung des Grundgesetzes verbieten. Denn das „zivile und militärische Gewaltmonopol“ gehöre zu den „wesentlichen Bereichen demokratischer Selbstgestaltung“ und sei dem Artikel 23 des Grundgesetzes damit übergeordnet. Artikel 23 ermächtigt den deutschen Gesetzgeber zur europäischen Integration.
Bevor der geltende EU-Vertrag – der Lissabon-Vertrag – Ende 2009 in Kraft trat, hatte das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni des gleichen Jahres in einem Grundsatzurteil die Grenzen der europäischen Integration aufgezeichnet, basierend auf den unveränderlichen Grundsätzen in den ersten 20 Artikeln des Grundgesetzes. Da die völkerrechtliche Souveränität nicht aufgegeben werden dürfe, müssten alle wesentlichen Entscheidungen letztlich vom Bundestag getroffen werden – egal ob zu Finanzen, Wirtschaft oder Sicherheit.
Mit Bezug auf dieses „Demokratieprinzip“ wurden Bundesregierung und Bundestag in den vergangenen Jahren immer wieder verklagt, wenn es um europäische Politik ging, etwa angesichts gemeinsamer Schuldenaufnahme der EU-Kommission für das Programm „Next Generation EU“ zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Corona-Folgen. Mit einer Ausnahme – Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) ab 2015 – sahen die Richter bisher keine solchen Grenzüberschreitungen.
Auch bei der militärischen Zusammenarbeit schloss das Gericht 2009 engere Koordination nicht aus. Es gebe „keine unübersteigbare Grenze für eine technische Integration eines europäischen Streitkräfteeinsatzes über gemeinsame Führungsstäbe, für die Bildung gemeinsamer Streitkräftedispositive oder für eine Abstimmung und Koordinierung gemeinsamer europäischer Rüstungsbeschaffungen“ heißt es im Beschluss von 2009.
Nur der jeweilige konkrete Einsatz der Bundeswehr hänge vom Bundestag ab, und zwar „konstitutiv“ – also im gegenwärtigen Rechtssystem unveränderlich. „Das beruht auf der Erkenntnis, dass die EU kein Bundesstaat ist, sondern ein besonderer Verbund souveräner Staaten“, erklärt Papier.
Das entspricht den gegenwärtigen Regeln in der Nato und der EU. Denn nicht nur im Militärbündnis, auch im EU-Vertrag gibt es eine Beistandspflicht. Sowohl bei Artikel 5 des Nato-Vertrages als auch nach Artikel 42 des EU-Vertrages bleibt es allen Mitgliedsstaaten überlassen, ob beziehungsweise wie sie helfen.
Habermas wünscht sich eine europäische Zuständigkeit auch deshalb, damit Deutschland im Falle, dass es sich zu einer „alle Nachbarn weit überragenden Militärmacht“ mausert, keine Alleingänge unternehmen könne. Das allerdings dürfte ebenso Zukunftsmusik sein wie eine echte europäische Armee, für die laut Papier ein europäischer Bundesstaat nötig wäre.
Ein solches Szenario ist verfassungsrechtlich nicht undenkbar. Aber nicht auf Basis des Grundgesetzes. Papier dazu: „Deutschland kann sich eine neue Verfassung geben“. Wenn Deutschland einen europäischen Bundesstaat mitgründen und Teil davon werden wolle, müsse sich die Bundesrepublik nach Artikel 146 Grundgesetz eine neue Verfassung geben – per Volksabstimmung.
Allerdings müssten andere Mitgliedsstaaten dann den gleichen Weg gehen und zusammen eine neue EU-Verfassung ausarbeiten. Seit 2009 haben sich die EU-Staaten nicht einmal an eine Überarbeitung ihrer Verträge gewagt, weil man nicht mehr auf die nötige Zustimmung in allen Ländern vertraut. Die Gründung eines europäischen Bundesstaates sei immer wieder diskutiert worden, habe aber nie die Oberhand gewonnen, erinnert Papier.
Damit bleibt allerdings auch die von Habermas gestellte Frage offen, wie ernst potenzielle Gegner ein Staatenbündnis nehmen, das bei einem Angriff auch nach dem ersten Schuss auf mehreren Ebenen diskutieren muss, wer wie zurückschießen darf. Peter Ehrlich