Schon weit vor Beginn der konstituierenden Sitzung des 21. Deutschen Bundestages sitzen die Abgeordneten der AfD auf ihren Plätzen. Vor den blauen Sitzreihen macht Beatrix von Storch ein Selfie mit Maximilian Krah, Alexander Gauland und einigen anderen Parlamentariern. Kurz vor der Sitzung bahnt sich Bundeskanzler Olaf Scholz den Weg durch die AfD-Abgeordneten – und nimmt Platz in der ersten Reihe der SPD-Fraktion. Um elf Uhr betritt dann Alterspräsident Gregor Gysi den Saal. Als er eine Minute später den Abgeordneten Bernd Baumann aufruft, ertönt zum ersten Mal der neue Sound der AfD.
Die neue Größe der AfD: Als die 152 Abgeordneten applaudieren, wird deutlich, wie sehr die neue Fraktionsgröße ins Gewicht fällt: Rein optisch, in der ersten Reihe sind jetzt vier Plätze – aber eben auch akustisch. Falls Union und SPD eine Regierung bilden sollten, wird Alice Weidel Oppositionsführerin. Sie wird dann diejenige sein, die nach dem Kanzler spricht – und damit die Debatten maßgeblich prägen wird.
Keine zwei Minuten hat Baumann gesprochen, als Gysi zum ersten Mal intervenieren muss. „Ich bitte Sie, zur Geschäftsordnung zu sprechen“, mahnt er Baumann, der zur Grundsatzrede ausholt. Die AfD beschwert sich, dass nicht der älteste Abgeordnete die Sitzung eröffnet, in dem Fall Gauland, sondern der dienstälteste. Die neue Größe der AfD wird sich auch in der Redezeit und Besetzung von Ausschüssen widerspiegeln. Und eben in der Sitzordnung. Sogar die Bundestagsverwaltung leistet sich hier einen Fauxpas: Im AfD-Block fehlen sieben Stühle.
Wie sich der Alterspräsident verzettelt: Als Gysi mit knapp zwanzig Minuten Verspätung die Sitzung eröffnet, erwarten die Abgeordneten eine fulminante Rede. Er begrüßt den ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, der ihn früher regelmäßig wegen seiner Redezeit ermahnt hatte. Gysi hat für seine Rede als Alterspräsident keine Zeitbegrenzung. „Ich werde das Recht nicht missbrauchen“, sagt er. Auf der Besuchertribüne wiegt Lammert skeptisch den Kopf hin und her.
Gysi gilt als rhetorisch stark – und startet gut in die Rede, obwohl er sie fast komplett abliest. Er spricht über verschiedene Haltungen zum Thema Frieden: „Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren, nicht immer bei Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen“, sagt er. Dann springt Gysi plötzlich: Es geht um den Nahen Osten, um weiterführende Schulen, um die Energiekrise – und um die unterschiedliche Besteuerung von Weihnachtsbäumen. Friedrich Merz muss lachen.
Einen starken Moment hat der Alterspräsident, als es um die Wiedervereinigung geht: Es sei ein schwerer Fehler bei der Einheit gewesen, dass man die DDR auf Stasi und Mauertote reduziert habe. Die DDR sei etwa bei der Gleichstellung der Geschlechter weiter gewesen, übernommen habe man aber nur Sandmännchen, Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil.
Gysi fordert den künftigen Bundeskanzler auf, sich dafür zu entschuldigen: „Das gäbe einen wirklichen Ruck bei der Herstellung der inneren Einheit.“ Notwendig sei weiterhin eine Gleichstellung von Ost und West, es müsse etwa Schluss sein mit unterschiedlichen Tarifverträgen, Ostdeutsche sollten in der nächsten Bundesregierung angemessen vertreten sein. Dann geht es wieder um Außenpolitik, es geht ein Raunen durch den Plenarsaal: Gysi kann kaum einen Punkt setzen, der in Erinnerung bleibt, sondern frühstückt in 38 Minuten alle Themen ab, teils parteipolitisch gefärbt, ohne konkret zu werden.
Wie sich Julia Klöckner als Versöhnerin inszeniert: Die Wahl der Bundestagspräsidentin verläuft so, wie sie sich Julia Klöckner vorgestellt hatte. Um 13:32 Uhr gibt Gysi das Ergebnis bekannt: 382 Ja-Stimmen, 204 Nein-Stimmen, 31 Enthaltungen. Notwendig waren 316 Stimmen: Klöckner hat es geschafft. Alle Fraktionen gratulieren, am Ende auch die erste Reihe der AfD.
„Guten Tag“, sagt Klöckner, als sie ans Mikrofon tritt. In ihrer Rede betont die ehemalige Agrarministerin, sie wolle ihre Aufgabe stets unparteiisch, unaufgeregt und unverzagt erfüllen. „Klar in der Sache, aber verbindend im Miteinander“, betont sie. Angesichts des schwindenden Vertrauens brauche es eine neue Vertrauensbeziehung zwischen Bürgerinnen und Bürgern und ihren Volksvertretern. Sie werde nicht nur zur Einhaltung der Redezeiten auf die Uhr schauen, sondern auch hinhören: zum Rednerpult und in den Saal hinein. Hier gebe es einen Gradmesser, nämlich den Anstand: „Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen.“
Ihr Credo: das Aushalten des Meinungsspektrums im Rahmen der Verfassung. „Nicht jede Meinung, die ich selbst nicht teile, kommt dem Extremismus gleich“, sagt Klöckner. Hier gibt es Applaus von der AfD. Ein paar Ankündigungen hat sie auch: Sie werde sich nicht verschließen, über Einsparungen bei der Bundestagsverwaltung nachzudenken, wolle eine Reform der Geschäftsordnung hinbekommen. Und: Der Bundestag soll das modernste Parlament der Welt werden, etwa bei der Digitalisierung der parlamentarischen Arbeit.
Dann wird es staatstragend. „Wir vertreten ein ganzes Volk“, sagt Klöckner. Es gehe ihr darum, ein „hörendes Herz“ zu haben, sagt sie und zitiert damit Papst Benedikt. „Erst zusammen sind wir Deutschland, niemand ist Deutschland allein.“ Optimismus müsse wieder durchs Land gehen, sagt sie am Ende ihrer Rede. Und schließt mit Gottes Segen.
Business as usual bei der Stellvertreterwahl: Nach einigen Anfangsschwierigkeiten werden Klöckners Stellvertreterinnen und Stellvertreterinnen gewählt. Zuvor hatte die neue Bundestagspräsidentin versehentlich einen Tagesordnungspunkt übersprungen. „Fängt ja gut an“, sagt sie.
Als Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten gewählt werden Andrea Lindholz (CSU) mit 425 Ja-Stimmen, Josephine Ortleb (SPD) mit 434 Ja-Stimmen, Omid Nouripour (Grüne) mit 432 Ja-Stimmen und Bodo Ramelow (Linke) mit 318 Ja-Stimmen. Der AfD-Kandidat Gerold Otten erhält zwar bei der geheimen Wahl mehr Stimmen, als die AfD-Fraktion Abgeordnete hat, fällt aber durch – auch im dritten Wahlgang. Es bleibt auch in der neuen Legislatur dabei: Die Kandidierenden der AfD bekommen keine Mehrheit.