Der Druck, der auf den SPD-Unterhändlern lastet, könnte größer nicht sein: Sie müssen als kleiner Partner und mit einer stark geschrumpften Fraktion unter Zeitdruck das Maximale für sich herausholen. Scheitern verboten, schon der Weltlage wegen.
Das aber muss die Parteiführung erst noch allen 120 Abgeordneten der SPD-Fraktion erklären; vier von ihnen sagten der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gerade, dass sie nach derzeitigem Stand Friedrich Merz nicht zum Kanzler wählen würden, vier weitere haben Bedenken. Schwarz-Rot hat nur eine Mehrheit von zwölf Stimmen, es könnte knapp werden.
Wie geht man solche Gespräche an? Ex-SPD-Chef Norbert Walter-Borjans hat die Ampelkoalition mitverhandelt und die SPD durch die zweite Hälfte der schwarz-roten Koalition unter Angela Merkel geführt. Er weiß, wie solche Bündnisse geschmiedet werden und worauf die SPD-Unterhändler achten sollten.
Zunächst zur Ausgangslage. „Mitte-Rechts ist nach rechts gerückt und Mitte-Links sowohl nach rechts als auch nach links“, sagt Walter-Borjans. Während CDU und CSU nur eine Seite in den Blick nehmen müssten, seien der SPD die Wähler auf beiden Seiten des Spektrums verlorengegangen.
Die Sozialdemokraten müssen einen Spagat hinbekommen: „Es gibt diesen Teil der SPD-Wählerschaft, der weiter nach links wegbrechen wird, sollte die Partei nur williger Mehrheitsbeschaffer in einer Koalition mit CDU und CSU werden“, sagt Walter-Borjans. Das zusammenzuhalten, Themen wie die Besteuerung von Mega-Vermögen zur Finanzierung öffentlicher Investitionen, Entspannungspolitik nicht preiszugeben und gleichzeitig mit den Konservativen zu Kompromissen zu kommen, sei die große Aufgabe.
Der ehemalige Parteichef sieht aber einen Weg, sie zu meistern. In den Verhandlungen werde man CDU und CSU Korrekturen bei der Migration zugestehen müssen. Mitten in Europa gehe das aber nicht mit rigoroser Grenzschließung, sondern europarechtskonform in einer Kombination von geordneter Zuwanderung und gelingender Integration. Das koste sehr viel Geld, sagt Walter-Borjans. Wenn es mit einer gerechten Verteilung des Reichtums verknüpft werde, wären dafür auch linke Wählerschichten zu gewinnen, sagt Walter-Borjans.
Dabei dürfe die Partei dieses Mal nicht den Fehler begehen, den sie in den Koalitionsverhandlungen seit 2013 immer wieder gemacht habe: „Wenn wir das Ziel, höchste Einkommen und Mega-Erbschaften für die steuerliche Entlastung von 95 Prozent der Steuerzahlenden stärker heranzuziehen, jedes Mal aufgeben, weil das weniger Empörung auslöst als der Verzicht auf emotional aufgeladene Themen, sollten wir das besser gar nicht mehr ankündigen.“ Was er meint: Für einen höheren Mindestlohn zum Beispiel oder eine Mietpreisbremse verzichte man regelmäßig auf „wichtige, aber vermeintlich langweilige Themen wie eine Steuerreform, gerechte Erbschaftssteuern oder die Reform des Ehegattensplittings“.
Dieses Vorgehen habe über mehrere Verhandlungen eine gewisse „Kontinuität“ bekommen, sagt Walter-Borjans. Dabei hätten Per Steinbrück, Martin Schulz und auch Olaf Scholz mit diesen Themen Wahlkampf gemacht. „Irgendwann sagen die Leute aber: ‚Schön, dass die SPD das im Programm hat, aber sie opfern es ja immer.‘“ Das seien die, die irgendwann lieber links als sozialdemokratisch wählten.
Die große Frage mit Blick auf die Regierungsbildung sei nun: „Schlittert die SPD in eine Koalition hinein oder wird sie dorthin geführt?“ Letzteres würde bedeuten, die beiden Komponenten – Zugeständnisse in der Migrationspolitik und mehr für Integration und Verteilungsgerechtigkeit – „überzeugend und ohne Aufgabe sozialdemokratischer Werte abzubilden“, sagt Walter-Borjans. „Ich hoffe sehr, dass es nicht wieder so kommt wie immer.“
Auch in der Kommunikation müsse sich etwas verändern, sagt der ehemalige Parteichef. „Ehrlicher“ müsse sie werden. Die SPD dürfe nicht jeden Kompromiss mit der Union als hundertprozentige Durchsetzung sozialdemokratischer Interessen darstellen. „In den Mails, die ich als Mitglied bekomme, steht immer drin, was wir alles erreicht haben und dass es gar nicht besser hätte laufen können, obwohl man weiß, dass ein schmerzhafter Kompromiss nötig war.“
Damit es nicht wieder läuft wie in der letzten schwarz-roten Koalition, werde es jetzt darauf ankommen, wie überzeugend die Person ist, die für die SPD die Verhandlungen führt und ihren Mitgliedern und Wählern erklärt, warum Kompromisse nötig seien, die weniger schön sind, sagt Walter-Borjans. „Und die dann auch nicht einfach nur Kompromisse mit Blick nach rechts macht, sondern für die etwas erreicht, die sonst auf der linken Seite wegbrechen.“
Wer das sein kann? Das sei ganz klar Aufgabe der Parteispitze, aber auch der Verhandlungsgruppe insgesamt. Er, Walter-Borjans, habe in dieser Frage immer großes Vertrauen in Matthias Miersch gesetzt. Miersch sei einer, der diese Klammer schon als stellvertretender Fraktionsvorsitzender repräsentiert habe. Aber der sei jetzt nun einmal „nur“ Generalsekretär unter zwei Vorsitzenden. Allen gemeinsam müsse bewusst sein, dass es um nicht weniger gehe als um das Überleben der SPD als Volkspartei. Tim Frehler