Friedrich Merz blickt noch einmal auf die Papiere vor sich auf dem Tisch, blättert die Seiten um, dann schlägt er die schwarze Mappe zu. Gleich wird er sie sich unter den linken Arm klemmen und damit ans Rednerpult des Bundestages schreiten.
Auf den Blättern, die er mit sich trägt, steht eine der wichtigsten Reden, die Merz in seiner politischen Karriere je gehalten hat. Keine vier Wochen sind es mehr bis zur Bundestagswahl. Merz und die Union führen die Umfragen an, baut er keinen gravierenden Schnitzer mehr, ist er bald am Ziel, im Kanzleramt.
Die Gewalttat in Aschaffenburg hat in ihm wieder den Instinktpolitiker hervorgebracht. Er will die Migrationspolitik verschärfen, egal, was kommt, egal, ob die AfD mit ihm stimmt, egal, ob er damit ein Loch in die Brandmauer reißt. Erste Umfragen legen nahe, dass er sich damit auch verkalkuliert haben könnte – nämlich selbst nicht gewonnen und den Gegner links von der Union so geschwächt habe, dass eine Regierungsbildung zu zweit schon fraglich würde. Erst einmal aber steht fest: Merz ist ins Risiko, ist all in gegangen.
Doch vor ihm ist der Kanzler dran. Politik sei kein Pokerspiel, sagt Olaf Scholz. Ein Haudrauf-Merz spielt ihm in die Karten, er kann sich jetzt als den Besonnenen darstellen, als den Vernünftigen im Raum. „Ein Bundeskanzler darf kein Zocker sein“, sagt Scholz. Er wirft Merz vor, im Affekt zu handeln, spricht ihm gleich jegliche Integrität ab; auch das ein Muster.
Die Argumentation des Kanzlers geht so: Taten wie in Magdeburg oder Aschaffenburg hätten mit den bestehenden Gesetzen verhindert werden können. Scholz sieht lediglich ein Vollzugsproblem, da seien auch die Länder in der Pflicht und politische Entscheidungen nicht nötig.
Da wird aus dem Staatsmann der Law-and order-Sozialdemokrat im Wahlkampfmodus. „Deutschland ist das einzige Land in Europa, das es geschafft hat, Straftäter nach Afghanistan abzuschieben“, rühmt sich Scholz, womöglich ein Versuch jene Lücke zu füllen, die die Union hinterlässt. Da klatschen aber nicht einmal in den Reihen der SPD alle Abgeordneten. Er findet dann aber noch ein paar Worte, um die Herzen der Genossen zu erwärmen: „Keinen Fußbreit denen, die Hass und Hetze säen“, sagt Scholz. Er habe alles Nötige veranlasst, alles darüber hinaus: Populismus.
Abgang Kanzler, Aufritt Merz. Am Pult öffnet er seine Mappe, schließt sein Jackett – und wendet sich zuerst an die AfD und an Alexander Gauland. Merz erinnert an die Gedenkstunde zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, kurz zuvor im Bundestag. „Das war Ihr Fliegenschiss, von dem Sie vor Jahr und Tag gesprochen haben“, sagt Merz.
Gänzlich ohne Umweg führt ihn seine Rede dann zu den Angriffen in Magdeburg und Aschaffenburg. Scholz‘ Argument, es gebe ein Vollzugsdefizit, nennt Merz „billig“. Es sei nicht die Aufgabe eines Kanzlers, zu beklagen, „dass die Rechtslage so ist, wie sie ist“, sagt er. „Sie sind doch nicht der oberste Notar dieser Republik.“ Wenn die Gesetze nicht ausreichten, müsse man sie eben ändern. Genau das will Merz: dauerhafte Kontrollen und Zurückweisungen an den deutschen Außengrenzen, das steht in seinem Antrag, über den in dieser Sitzung abgestimmt wird, dem sogenannten Fünf-Punkte-Plan.
Strategisch ist die Angelegenheit für Merz heikel: Zieht er zurück und verhindert, dass die AfD mit ihm gemeinsame Sache macht, steht er als Bluffer da, als einer, der es doch nicht ernst meint. Hinzu kommt: Er geht davon aus, dass er mit einem härteren Migrationskurs die AfD in Schach halten kann.
Also hat er sich entschieden, aufs Ganze zu gehen und persönlich zu werden. Er könne es mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, „dass angeblich formale Absprachen“ dazu führen sollen, dass die Union im Bundestag nur Entscheidungen zur Abstimmung stellen dürfe, die vorher die Zustimmung von SPD und Grüne gefunden hätten. Klar, die Bilder von jubelnden und feixenden AfD-Abgeordneten „werden unerträglich sein“, sagt Merz. Aber SPD und Grüne hätten die Wahl, sie könnten zustimmen. „Es ist ihre Entscheidung“, sagt Merz. Er lässt sich jetzt nicht mehr beirren und wähnt die Mehrheit der Gesellschaft hinter sich.
Um 17:37 Uhr gibt Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt das Ergebnis der Abstimmung bekannt: Mit einer Mehrheit von drei Stimmen ist der Entschließungsantrag der Union, der Fünf-Punkte-Plan, angenommen. In den Reihen der AfD applaudieren sie und umarmen sich. In der Unionsfraktion klatscht niemand. Merz geht noch einmal nach vorn, versichert, er suche keine anderen Mehrheiten als die in der demokratischen Mitte des Parlaments.
Wenn es eine solche nicht gegeben habe, bedauere er das. Und dann tut Merz das, was er in den vergangenen Tagen immer wieder getan hat: Er prescht vor. Der CDU-Chef fordert SPD und Grüne auf, mit ihm bis Freitag darüber zu sprechen, wie eine gemeinsame Mehrheit für das Zustrombegrenzungsgesetz möglich sein könnte. Die Verantwortung dafür sieht er bei den anderen. Er geht all in, noch einmal. Tim Frehler, Elena Müller