Am Sonntag treffen sich die Grünen zum Parteitag in Berlin, die große Bühne, die perfekte Gelegenheit, um dem eigenen Wahlkampf einen Schub zu verleihen, Botschaften zu wiederholen. Die Scheinwerfer werden auf Robert Habeck, Annalena Baerbock und die Parteivorsitzenden gerichtet sein.
Doch die Affäre um den Bundestagsabgeordneten Stefan Gelbhaar wirft einen gigantischen Schatten auf diese Bühne. Sie saugt all das Licht auf, in das die Grünen ganz andere Dinge stellen wollten: Zuversicht, Zusammenhalt, den Bach rauf, nicht runter. Über dem Parteitag und dem weiteren Wahlkampf schwebt die bange Frage, ob sich die Partei befreien kann aus ihrer misslichen Lage. Am Sonntag sind es noch genau vier Wochen bis zum Wahltag.
Zunächst sah es so aus, als ließe sich die Causa Gelbhaar auf Berliner Landesebene regeln, war alles nicht schön, geht aber vorbei. Bis die Sache Ende vergangener Woche eine dramatische Wendung nahm, bis der RBB zugeben musste, dass eine der Hauptbelastungszeuginnen höchstwahrscheinlich gar nicht existiert, bis zumindest Teile der Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen Gelbhaar in sich zusammenfielen. Das war am Freitagabend.
Das Wochenende verging und mit ihm die Möglichkeit, aus Sicht der Grünen kommunikativ in die Offensive, vor die Lage zu kommen. Robert Habeck schwieg bis zum Montag, Annalena Baerbock fühlte sich als Außenministerin nicht zuständig, die Parteivorsitzenden kündigten lediglich ein Ausschlussverfahren gegen die Politikerin an, die die falschen Aussagen gemacht haben soll. Vor die Presse traten Franziska Brantner und Felix Banaszak erst am Montag.
„Der Fall hat die Bestandteile, um zu einem richtig großen Skandal zu werden“, sagt Juliana Raupp, Professorin für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Sie forscht dort unter anderem zur Organisations- und Krisenkommunikation. Extrem wichtig in solchen Situationen sei der Faktor Zeit, sagt sie. Die Grünen hätten unterschätzt, welche Fahrt die Sache aufnimmt – und wie schnell. Anstatt erst einmal zu schweigen, hätten sie „gleich reagieren“ müssen, sagt Raupp.
Und auf eine andere Art: Nicht in bürokratische Sprache abrutschen, sondern dem Umstand Rechnung tragen, „dass es hier um Menschen geht und um Gefühle“. Das sei vor allem bei Skandalen wichtig, „die moralisch aufgeladen und emotional für viele Leute sind“. Die richtige Reihenfolge wäre also gewesen, zu sagen: „Wir sehen das Problem, wir nehmen es ernst und entschuldigen uns bei allen, die Schaden genommen haben. Und dann kümmern wir uns im nächsten Schritt um die Aufarbeitung.“
Eine Affäre wie diese hätte jeder Partei enormen Schaden zugefügt, die Grünen trifft sie aber besonders hart. Sie verstehen sich als feministische Partei, in der der moralische Maßstab und damit die eigene Fallhöhe höher liegt als anderswo. Als Rechtsstaatspartei sehen sie sich allerdings auch. Hinzu kommt: Noch immer halten sieben weitere Personen ihre Vorwürfe gegen Gelbhaar aufrecht, die Sache ist also auch auf dieser Ebene nicht erledigt.
Wie lange wirkt das jetzt noch nach? Wie könnte es weitergehen? „Es wird jetzt erst einmal noch eine Aufregungsphase geben“, sagt Juliana Raupp. Danach hänge es davon ab, wie glaubwürdig es der Partei gelinge, den aktuellen Fall aufzuarbeiten und Schritte zu unternehmen, damit sich so etwas nicht wiederholt. „Aber ob man das jetzt noch einfangen kann in dem Wahlkampf, weiß ich nicht.“ Tim Frehler