Der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel rät seiner Partei, im Bundestagswahlkampf nicht einseitig auf soziale Themen zu setzen, abgesehen von der Erhöhung des Mindestlohns. „Der Sozialstaat ist in den letzten Jahren stark ausgebaut worden. Wenn das Wählerstimmen brächte, müsste die SPD eine Zweidrittelmehrheit haben“, sagte Gabriel im Interview mit SZ Dossier. Dabei wüssten auch die Sozialdemokraten, dass nicht alle Versprechen finanzierbar seien. Der klassischen SPD-Wählerschaft fehle offensichtlich Orientierung in einer immer unsicherer werdenden Welt, eine realistische Migrationspolitik und „vor allem ein klarer Ansatz, wie Deutschlands Wirtschaft wieder flott gemacht wird“.
Statt zu vermitteln, dass es die Partei unter Gerhard Schröder schon einmal geschafft habe, ein Erfolgsprogramm mit 15 Jahren Wachstum und Beschäftigungszuwachs durchzusetzen, arbeite sie sich immer noch an der Agenda 2010 ab. „Statt zu sagen ‚wir können das’, macht die SPD Wahlkampf mit scheinbar viel Negative Campaigning.“ Es sei aber „Unsinn“, Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz als „Beelzebub“ darzustellen „und die CDU ist auch keine Partei, die den Sozialstaat ruinieren will“.
Gabriel sagte, die Bundestagswahl im Februar werde im Wesentlichen nicht über Personen entschieden, sondern darüber, „welche Konstellation aus Sicht der Mehrheit der Wähler am ehesten Stabilität bringt“. Die Menschen vertrauten kaum noch einem Politiker, hätten aber ein Gefühl dafür, was Stabilität bringt „und das ist wahrscheinlich das, was sich die meisten Menschen wünschen.“ Die Wähler wollten wirkliche Veränderungen in der Wirtschaftspolitik und „einfach wieder gut regiert werden“. Spätestens wenn die Arbeitslosigkeit im Januar über drei Millionen steigen sollte, würden Wirtschaft und Beschäftigung das zentrale Thema im Wahlkampf.
Wo es mehr Geld brauche – zur Not auch mit mehr Schulden – sei in der Infrastruktur, Digitalisierung und Verteidigung, „aber gerade nicht für höhere Sozialausgaben“. Es gehe um eine Entfesselung der deutschen Wirtschaft. Industriepolitik bedeute, bessere Bedingungen für Investitionen und Innovationen zu schaffen, aber nicht, dass der Staat „überall mit Geld um sich wirft“. Trotz Steuereinnahmen von einer Billion Euro fehlten Lehrer und Polizisten und die Infrastruktur verkomme. „Die Diskrepanz zwischen einem immer größer werdenden Staat und schlechteren Leistungen ist ein Grundgefühl, das es auch in den USA gab und zum Erfolg von Trump beigetragen hat.“
Der nächste Bundeskanzler müsse sich voll auf die Aufgabe konzentrieren, Europa zusammenzuhalten. „Mein größter Vorwurf an die Ampel ist, dass sich der Bundeskanzler um das tägliche Klein-Klein seiner verstrittenen Koalitionspartner kümmern musste und das zu der eigentlich unverantwortlichen Vernachlässigung der europäischen Verantwortung Deutschlands geführt hat“, sagte der frühere Außenminister. Das deutsch-französische Verhältnis müsse gekittet und das mit Polen zu neuer Stärke gebracht werden. „Deutschland braucht einen Regierungschef, der – wie es Angela Merkel war – möglichst frei von innenpolitischem Hickhack Deutschland zu einer Führungsrolle in Europa zurückbringt.“
Auch im Umgang mit der Ukraine müsse jeden Tag der Grundsatz gelten, dass Deutschland nie etwas allein machen sollte. „Immer abgestimmt mit Europa und der Nato, keine Alleingänge.“ Deutschland sei zurecht der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine nach den USA. „Da kann man sich nicht halb distanzieren, halb den Eindruck vermitteln, wir Deutschen könnten bei Putin etwas erreichen.“ Putin werde nicht mit Deutschland oder Frankreich verhandeln, sondern mit den USA. „Wir können von Glück sagen, wenn Trump uns Europäer an diesen Gesprächen beteiligt.“
Eine Diskussion um eine Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen oder europäischen Friedenstruppe für die Ukraine halte er für verfrüht. Aber wenn die Voraussetzungen einmal da seien, werde die Teilnahme „eine Selbstverständlichkeit sein“. Er glaube nicht an eine kurzfristige Lösung nach dem Amtsantritt von Donald Trump, weil der russische Präsident Wladimir Putin aktuell „offensichtlich gar kein Interesse hat, den Krieg anzuhalten.“
Im Rahmen einer Lösung werde es möglicherweise einen Vertrag zwischen der Nato und der Ukraine geben müssen. Die Ukraine könne nicht mit einer neutralen UN-Truppe zufrieden sein, sondern wolle wirksamen Schutz und militärische Sicherheit. „Deshalb wollen sie in die Nato. Das aber wollen weder die USA noch die meisten Europäer, weil ein erneuter Konflikt uns dann in einen direkten Konflikt mit der Nuklearmacht Russland brächte.“ Deshalb werde die Lösung für einen Waffenstillstand etwas sein, was dem Schutz durch die Nato nahekomme. Der Kern von Verhandlungen werde nicht Land gegen Frieden sein, sondern „Frieden oder Waffenstillstand gegen Sicherheit“.
Man dürfe nicht vergessen, dass die russischen Angriffe das Leben in der Ukraine jeden Tag zur Hölle machten. Deswegen halte er die „Bewegung Sarah Wagenknecht“ für im wahrsten Sinne des Wortes furchterregend. „Frau Wagenknecht hat keine Friedenspartei gegründet, sondern eine Kriegspartei, der offenbar das Leid der Ukrainer völlig gleichgültig ist und die Putins Politik rechtfertigt.“ Er sei erschrocken, dass auf einmal Landesregierungen „von dieser eiskalten Kriegerin“ Wagenknecht scheinbar abhängig geworden seien.