In jedem Berliner Gespräch kommt so ein Satz derzeit einmal vor: Die nächste Regierung muss sitzen. Egal, welche Parteien dann zusammen regieren: Wer nicht will, dass vier Jahre später die Extremen auf der Rechten und Linken so stark werden, dass das Land nur schwer regierbar ist, der muss sich nun zusammenreißen und liefern.
Keine kleine Verantwortung. Wie sehr der Versuch die Mühe wert ist, zeigt ein Blick ins Nachbarland: Seit der Parlamentsneuwahl im Sommer stehen in der Assemblée drei ähnlich große Blöcke nebeneinander. Nach 89 Tagen fiel die Regierung der Mitte darüber, dass Linke und Rechte in ihr den gemeinsamen Gegner identifizierten und sie stürzten – weil sie konnten.
Was das für Frankreich, Deutschland und Europa bedeutet.
„Wir können uns weder Spaltungen noch Stillstand leisten“, sagte der Präsident am Abend in einer Ansprache an die Nation. „Aus diesem Grund werde ich in den nächsten Tagen einen Premierminister ernennen.“ Auch seine nächste Regierung muss sitzen – denn die geläufigen Möglichkeiten zu reagieren, hat er nun einmal durch. Neuwahlen auszurufen, brachte Frankreich erst in die parlamentarische Blockade und die Nationalversammlung darf erst ein Jahr danach wieder aufgelöst werden.
Der nun angekündigte zweite Versuch einer Regierung mit den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen – einer „im nationalen Interesse“, wie er sagte – schleift den Glanz auch dieses Experiments. Macron appellierte an die Franzosen, sich von den Olympischen Spielen und dem Wiederaufbau von Notre-Dame anstecken zu lassen: „Lassen Sie uns in derselben Weise die Nation wieder aufbauen.“
Eine Möglichkeit bliebe immer: Macrons eigener Rücktritt vor Ende der Amtszeit 2027. Vehement gefordert von der Opposition, gliche er einem Opfer auf dem Altar der Republik – symbolhaft mehr, als dass es den Lauf der Dinge zum Besseren wenden würde. Zwar hat Macron Handlungsfähigkeit zu einem Leitgedanken seiner Politik gemacht und ist von der Kraft der Tat als solcher fasziniert. Vom Rücktritt nicht: „Ich werde nicht die Verantwortung der anderen auf mich nehmen, vor allem nicht von Parlamentariern, die sich bewusst dazu entschieden haben, den Haushalt und die Regierung Frankreichs wenige Tage vor den Weihnachtsfeiertagen zu Fall zu bringen“, sagte er.
Scholz, mit dem die Deutschen durch zu sein scheinen; Macron, der noch etwas länger Zeit hat für ein Comeback von ganz unten in der Gunst: Nicht, dass sie einander jemals verstanden oder gar Europa gemeinsam kraftvoll vorangebracht hätten, aber nun fallen Deutschland und Frankreich gleichzeitig aus. Dabei könnte Europa eine starke gemeinsame Position vertragen: Im handels- wie sicherheitspolitischen Ringen mit Trump, um China keine Gelegenheit zur Spaltung zu geben, um Putin entgegenzutreten.
Ein Vakuum bleibt natürlich keines: Ursula von der Leyen steht bereit, europäische Politik aus Brüssel heraus entscheidend zu prägen – eine in der Geschichte seltene cohabitation zweier geschwächter Vertreter europäischer Staaten mit einer starken Kommissionspräsidentin.
Dabei kommt es zu bitteren Niederlagen: So flog von der Leyen gestern nach Uruguay, um dort das von Frankreich heftigst abgelehnte Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten zu unterzeichnen. Die Ziellinie sei „in Sicht“, teilte sie mit, nun wolle sie sie überschreiten. Das kommt der Bundesregierung entgegen, der Erfolg ist aber einer des Powerplays der Kommission. Ein zweites Beispiel: Die Debatte um Eurobonds für Verteidigungsausgaben bekommt neue Dringlichkeit – vorgetragen etwa nun in der Financial Times von Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsotakis; auch Italien und Polen sind offen. Für von der Leyen bedeutet so ein Instrument einen weiteren Machtzuwachs, Berlin will es nicht.
Der Stabilitäts- und Wachstumspakt der Eurostaaten bekam den ersten dauerhaften Schaden, als Deutschland – unter Bundeskanzler Gerhard Schröder – und Frankreich ihn unsanktioniert verletzten. Es ist wieder so weit: Beide Länder werden die Grenzen reißen, erwarten Brüsseler Beamte, und mangels Haushalt 2025 auch nicht entschieden gegensteuern können.
Nicht so schlimm, sagten Wohlmeinende lange, eine neue Euro-Krise drohe kaum, die Schwierigkeiten seien schließlich nicht ökonomischer, sondern politischer Natur. Und damit kurzfristig lösbar? Bon.