Ates Gürpinar erinnert sich noch gut an seine erste Rede im Bundestag – an die Anspannung davor, und daran, was er danach nicht getan hat: Alkohol trinken. In so einem besonderen Moment nicht anzustoßen, nicht zu trinken, das sei schon etwas Besonderes gewesen, sagt er. Dabei hat Gürpinar Anfang 2022 nur das getan, was viele andere im Januar auch tun: Er hat auf Alkohol verzichtet, hat den typischen Dry January gemacht.
Seit 2021 sitzt Gürpinar für die Linke im Bundestag, ist stellvertretender Vorsitzender der Partei und drogenpolitischer Sprecher der Gruppe im Bundestag. Der Umgang mit Alkohol beschäftigt ihn also auf der politischen Ebene, der 40-Jährige hat aber auch seine eigenen Erfahrungen mit der Droge gemacht. Und damit, welche Rolle sie im politischen Berlin spielt, wo Alkohol ganz selbstverständlich dazugehört: zu Feiern und Festen, Empfängen und Ereignissen. Ständig werden Bier, Wein und Sekt gereicht, oft sogar kostenlos. „Selbst bei Veranstaltungen, wo es um Drogenkonsum oder Substitution geht, wird Alkohol angeboten“, sagt Gürpinar. Und das in einem Betrieb, in dem Menschen ständig unter Strom stehen, der keine Schwäche duldet, wo Alkohol also leicht zur Falle werden kann, weil es dadurch gelingt, einfach mal loszulassen.
Gürpinar kennt das. Als er in den Bundestag eingezogen ist, sei er noch im gleichen Monat einen Marathon gelaufen. Im ersten Jahr als Abgeordneter habe er dann aber so gut wie keinen Sport mehr gemacht und stattdessen „relativ oft, zu oft“, wie er sagt, zum „typischen Feierabendbier“ gegriffen, „um mich schneller zu entspannen“. Nach dem ersten Jahr als Abgeordneter habe er dann wieder angefangen, mehr Sport zu machen. Anfang des Jahres, als er kommissarisch Bundesgeschäftsführer der Linken wurde, auch wieder eine Zeit lang aufgehört, Alkohol zu trinken. „Weil ich wusste, der Stress wird so krass sein, dass ich fit sein muss“, sagt er. Und weil er wisse, dass er beim Thema Alkohol eben einen wunden Punkt habe, zwar keinen „regelmäßigen Massenkonsum“, aber es sei eben etwas, mit dem ihm der Umgang schwerfalle.
Und dem politischen Betrieb offenbar auch: Alkohol sei so normal, sagt Gürpinar, dass man ihn gar nicht mehr als Problem ansehe. „Man will es auch nicht problematisieren, weil man damit gleich als schwache Person gesehen wird.“ Und zwar nicht nur beim politischen Gegner. „Auch innerhalb der Parteien gibt es einen Wettstreit, bei dem man sofort angegangen wird, wenn man Schwäche zeigt“, sagt er. Dabei, sagt Gürpinar, sollte es ja gerade ein Zeichen der eigenen Stärke sein, wenn man nicht trinkt.
Keine Schwäche zeigen, ständig unter Beobachtung stehen, das alles erzeugt Stress, zu dem auch die ständige Erreichbarkeit beiträgt. Durch soziale Medien hat sich das Geschäft der Politik massiv beschleunigt. „Früher hatte man ein Vorzimmer und wenn man nicht mehr im Raum war, konnte man auch nicht erreicht werden“, sagt Gürpinar. Das ist längst Geschichte, jeder hat die Möglichkeit, ständig online zu sein, ständig zu kommunizieren. Und zu tun gibt es sowieso immer etwas.
Wie also umgehen mit diesen Bedingungen, mit diesem Druck? „Bei mir ist es der Sport und der Freundeskreis, womit ich mich ablenke und was mich erdet“, sagt Gürpinar. „Du brauchst ein Umfeld, das dich auf dem Boden hält und auf das du dich verlassen kannst.“ Freunde, Familie zählt er dazu. Und es gebe auch im Kreis der Partei Menschen, denen er sich anvertrauen könne. „Da redet man dann abends aber nicht mehr über Politik.“ Sein privates Umfeld habe ihm auch geholfen – oder vielmehr nahegelegt –, Grenzen zu setzen. „Die haben gesagt, jetzt ist Feierabend. Wir essen jetzt hier zusammen und du legst dein Handy weg.“ Mittlerweile funktioniere das ganz gut.
Gürpinar ist noch einen weiteren Schritt gegangen: Schon vor längerer Zeit habe er angefangen, unregelmäßig eine Psychologin aufzusuchen. „Gar nicht mit einem konkreten Problem“, sagt er, „aber zumindest, um immer wieder abzugleichen, wo ich gerade stehe.“ Momentan mache er das zwar nicht, sagt Gürpinar, gerade habe er die persönliche Grundlage dafür zu sagen, „mir geht’s gut und deswegen kann ich mich auch mit den verrückten politischen Zuständen beschäftigen, die wir haben. Ich prüfe mich aber immer wieder ab, inwiefern ein Besuch helfen würde.“ Tim Frehler