Für Volker Wissing muss sich seine Entscheidung folgerichtig anfühlen. Mit dem eigenen Parteichef ist er seit Längerem im Clinch, mit der Ampel ganz happy – und in einer Ahnung, dass es eh vorbei sein wird mit Amt und Würden, lassen sich Entscheidungen in aller Freiheit treffen: Der Verkehrsminister folgte lieber Scholz als Lindner. Zum Dank wurde der Jurist auch noch zum Justizminister ernannt.
Wissings Verhältnis zu Christian Lindner ist seit Jahren angespannt. „Ich habe ein Störgefühl, wenn Menschen mehr Raum beanspruchen, als ihnen zusteht. Die einen Raum betreten, als hätten alle nur auf sie gewartet“, sagte er einmal. Man darf davon ausgehen, dass er auf Parteimitglieder anspielte. Vor wenigen Tagen schrieb er in einem Gastbeitrag, warum er an der Ampel festhalten wolle. Am selben Tag wurde das Lindner-Papier, die „Scheidungsurkunde“ der Ampel, öffentlich. Einen Rückzug aus der Koalition nannte Wissing „respektlos“ vor dem Souverän.
In der FDP waren viele längst unzufrieden mit ihrem Verkehrsminister. Dem Ampel-Fan, der betonte, wie wichtig ihm die Verkehrswende sei. Der startete, um die Bahn ambitioniert umzubauen. Der das Neun-Euro-Ticket erfunden haben soll. Der sich mit Robert Habeck zeitweise sichtlich besser verstand als mit seinem Parteichef. Habeck lobte ihn nach dem Amtsverbleib ausdrücklich: „Mich beeindruckt, dass er das Amtsverständnis, seine innere Haltung jetzt vor die Partei stellt.“
Gestern sagte Wissing Reportern, die Ampel hätte „mehr Chancen gehabt, wenn man von Anfang an gemeinsamer und stärker an ihrem Erfolg gearbeitet hätte“. Er sei mit vielen Dingen nicht einverstanden gewesen, insbesondere nicht mit der Art und Weise, wie man „kontroverse Positionen öffentlich ausgetragen hat, anstatt Brücken zueinander zu bauen“. Lindner sagte über Wissing nur, er wünsche ihm „persönlich und menschlich jedenfalls alles Gute“. Über Weiteres sei er „nicht informiert“ gewesen.
Den Grundwerten der Partei, versicherte Wissing, fühle er sich weiter verbunden. Mit der Lindner-FDP will er aber, so scheint es, nichts mehr zu tun haben. Nach seinem Gastbeitrag hatten sich führende Rot-Grüne wohlwollend geäußert, unter anderem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD). Wissings Fehlen in der FDP-Fraktionssitzung am Mittwochabend, aus „privaten Gründen“, war aufgefallen.
Wie Wissing gestern sagte, habe ihn der Kanzler nach dem Koalitionsausschuss in einem persönlichen Gespräch gefragt, ob er bereit sei, „das Amt des Bundesministers für Digitales und Verkehr unter den neuen Bedingungen fortzuführen“. Er habe darüber nachgedacht und dies gegenüber Scholz bejaht. Um keine Belastung für seine Partei zu sein, habe er „Herrn Christian Lindner“ seinen Austritt aus der FDP mitgeteilt.
Die Liberalen selbst wirkten am Tag nach dem Ampel-Aus beinahe ungläubig. Ein führender FDPler sagte, das mit den privaten Gründen habe „offensichtlich“ nicht gestimmt. Der Schritt erwischte viele kalt: Im schicksalshaften Koalitionsausschuss habe sich Wissing nicht geäußert, in Abstimmungen und Wortmeldungen „keine Differenzen“ gezeigt. Einen Austausch, so heißt es, habe es trotz mehrfacher Versuche der Kontaktaufnahme nicht gegeben. Enttäuschung, Empörung: Opportunismus, lautet der Vorwurf.
Wissings drei parlamentarische Staatssekretäre im BMDV, FDP-Parteibuch, traten geschlossen zurück. Sie hätten „kein Vertrauen mehr“ in ihn. „Die Entscheidung des Verkehrsministers passt zum bräsigen und visionslosen Kurs des Kanzlers, der die reformwilligen liberalen Minister entlassen hat“, sagte Maximilian Funke-Kaiser, digitalpolitischer Sprecher der FDP, Selina Bettendorf von unserem Dossier Digitalwende, die heute ebenfalls berichtet. „Volker Wissing steht mit seiner Entscheidung sehr einsam da“, sagte die Abgeordnete Anja Schulz.
Er hat halt nun neue Freunde. Auf dem Digitalgipfel der Bundesregierung vor wenigen Wochen in Frankfurt zog sich Wissing mit Scholz und Habeck zum Krisengespräch zurück, sagen Regierungsvertreter. Möglicherweise war da schon klar, was passieren könnte. Gestern war er in einem Webex-Call mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Ministerium – von viel Zuspruch aus dem Haus berichteten Teilnehmende.
Was ihn zu diesem Schritt bewogen hat? „Die Entscheidung ist eine persönliche Entscheidung von mir, die meiner Vorstellung von Übernahme von Verantwortung entspricht. Ich möchte mir selbst treu bleiben“, sagte er. Eine weitere Botschaft an Lindner also. Wissing, ein gläubiger Protestant, war in seiner rheinland-pfälzischen Heimat fünf Jahre lang Teil der ersten Ampel auf Landesebene, die im Gegensatz zur Berliner Variante erfolgreich regierte und sogar wiedergewählt wurde.
Deswegen galt er auch als großer Verfechter dieser Konstellation. Darüber hinaus ist Wissing, der auch als Richter und Staatsanwalt tätig war, Miteigentümer einer erfolgreichen Kanzlei und wirtschaftlich unabhängig – seine Familie besitzt ein Weingut und mehrere Immobilien. Wenig Druck also, in der Politik bleiben zu müssen.
Am Ende war ihm die Ampel wichtiger als das Parteibuch: ein Hoch auf die Freiheit, ein Mittelfinger für Lindner, für vielleicht ein paar Monate im Amt. Gabriel Rinaldi, Valerie Höhne