Lang genug haben wir uns jetzt damit beschäftigt, was wäre, wenn. Ab heute Nacht unserer Zeit werden wenigstens die Hälfte der Szenarien – ob ängstlich, hoffnungsfroh oder voll vorauseilender Genugtuung vorgetragen – überflüssig: Amerika wählt den 47. Präsidenten oder die 47. Präsidentin. Das Rennen wird eng.
Wenn es bei uns 1 Uhr nachts ist, schließen an der Ostküste die ersten Wahllokale. Popcorn steht bereit? So schauen Sie die Wahlnacht mit Verstand.
Die Ausgangslage: Sogar beim popular vote, der schlichten Anzahl der Stimmen landesweit, liegen die demokratische Kandidatin, Vizepräsidentin Kamala Harris, und der republikanische Ex-Präsident Donald Trump sehr eng beieinander. (Joe Biden hatte 2020 einen Vorsprung von acht Prozentpunkten.) Es ist aber weitgehend unerheblich, wer das Rennen um die meisten Stimmen gewinnt.
Flip-flop oder neue Realitäten: Am Ende kann es, wegen Mehrheitswahlrecht und Wahlleute-System, auf jeweils wenige Stimmen in diesen sieben Bundesstaaten ankommen: Georgia (hier etwa gewann Biden mit nur 12.000 Stimmen Vorsprung), Arizona, Wisconsin, Pennsylvania, Nevada, Michigan und North Carolina. Die Swing- oder Flip States spielen ihre besondere Rolle, weil ohne ihre Wahlleute-Stimmen kein Sieg gelingt – und weil sie die einzigen Staaten sind, in denen Politik interessant ist, im Sinne von: unvorhersehbar.
Vier dunkle Reiter: Zu diesen sieben, in denen ein Kopf-an-Kopf-Rennen entschieden wird, kommen vier Staaten mit dem Potenzial zur Überraschung. 2020 gingen Florida, Texas, Ohio und Iowa an Trump, die Umfragen deuteten auch dieses Mal in dieselbe Richtung. Am Samstag aber ließ die Umfrage einer renommierten Demoskopin aus Iowa das Land aufhorchen und Trump wüten; sie sah Harris drei Punkte vorn.
Die ersten sechs Staaten im Osten schließen die Wahllokale um 19 Uhr Ortszeit, darunter Georgia. Eine Stunde später werden es schon 25 sein – und die Datenpunkte beginnen, unübersichtlich zu werden, mit allerdings geringer Aussagekraft zum Ausgang der Wahl – außer es gibt Siege, wie Trump sie dieser Tage noch beschwor: Angesichts der knappen Umfragen und ihrer Margen sind eben überraschende Erdrutsche in beide Richtungen möglich.
Herrschaft über die Daten: Nachwahlbefragungen sagen, anders als in vielen europäischen Ländern, mehr darüber aus, was Menschen bei der Stimmabgabe wichtig war – weniger über das Ergebnis. Diese Exit Polls stützen sich auch auf deutlich weniger erhobene Daten: Der National Election Pool (NEP), dem alle großen TV-Sender (bis auf Fox News) und die Nachrichtenagentur Reuters angehören, hat 2020 in Florida – bei 14 Millionen registrierten Wählern – 40 Wahllokale für Befragungen ausgewählt. Zum Vergleich: Bei einer deutschen Landtagswahl stehen Interviewer vor bis zu 200 Wahllokalen je Forschungsinstitut.
Das heißt: Exit Polls dienten oft als Grundlage dafür, rasch Staaten als entschieden auszurufen, in denen die Verhältnisse eindeutig sind. Bei Staaten mit engem Ergebnis helfen sie nicht viel. Hochrechnungen gibt es auch keine: Die Zahlen der Nacht, in Abwesenheit eines nationalen Wahlleiters ebenfalls vom NEP veröffentlicht, geben im Wesentlichen den Stand der Auszählungen wieder.
Halb hilfreich: Die ersten Ergebnisse da sind wiederum nicht sehr aussagekräftig: Viele Staaten mit (tendenziell den Demokraten zugewandten, langwierig auszuzählenden) städtischen Wahlbezirken verzeichneten in der Vergangenheit eine Führung der Republikaner, die später kippte – was Falschbehauptungen von Wahlfälschung zugunsten der Demokraten befeuerte.
Ähnliches gilt für die Briefwahl: In Pennsylvania führte 2020 lange Trump. Im Lauf der Auszählung drehten Briefwahlstimmen das Ergebnis. Der Staat beginnt erst am Morgen des Wahltags mit der Auszählung der Briefwähler; es dauerte bis zum vierten Tag nach der Wahl, bis ein Ergebnis feststand.
Auf welche Daten also achten? Neben dem Popcorn empfiehlt es sich, die Ergebnisse von 2020 in den Schlüsselstaaten parat zu haben und komplett ausgezählte Wahlbezirke hinsichtlich des Vorsprungs des siegreichen Lagers zu vergleichen; das gewichtete Hochrechnen auf den Staat als Ganzes übernehmen im Zweifel die Wahlsendungen.
Wenn Michigan, dann Trump: Die beiden Staaten, die es im Auge zu behalten gilt (beide gingen 2020 an die Demokraten), sind Michigan – für Trump – und Pennsylvania für Harris: Die Chancen sind laut den Umfrageinstituten jeweils hoch, dass sie das Rennen machen, wenn sie die jeweiligen Staaten gewinnen. Fürs Ergebnis in Michigan wiederum kommt es stark auf Detroit an. Wenn die größte Stadt des Staates wählen geht, färbt Michigan sich blau. Wenn nicht, dann rot. Genau wegen solcher Zusammenhänge konzentrierten sich die letzten Tage des Wahlkampfs darauf, die jeweiligen Kernzielgruppen zu mobilisieren.
Michigan sollte schnell sein mit der Auszählung, insofern kann die Wahlnacht auch rasch Ergebnisse bringen. Oder sie ist der Auftakt zur Unsicherheit: Wenn der große Preis an ein paar Tausend Stimmen etwa in Pennsylvania oder einem der anderen großen, engen Staaten hängt, öffnet das die Tür für Versuche der Einflussnahme aufs Ergebnis. Tage und Wochen, nachdem die USA gewählt haben: der nächste Stärketest für die Institutionen. Florian Eder