China ist eine der größten Herausforderungen für Deutschlands politisches System und für die deutsche Wirtschaft. Dazu haben Felix Lee und Finn Mayer-Kuckuk, Redakteure unseres kommenden Informationsdienstes Dossier Geoökonomie: Wirtschaft, Wettbewerb, Weltordnung, ein neues Buch veröffentlicht. Lesen Sie einen Auszug aus „China – Auswege aus einem Dilemma“.
Deutschland hat gute Jahrzehnte hinter sich. Das mag vielleicht nicht jeder und jede Einzelne zu spüren bekommen haben, aber insgesamt sind die Deutschen sehr viel wohlhabender geworden. Diese Entwicklung hat vor allem ein Land möglich gemacht: China. Den Aufstieg von einem armen und rückständigen Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hat China einem gigantischen Heer von Arbeiterinnen und Arbeitern zu verdanken. Diese strebten ihrerseits nach Wohlstand und waren bereit, die Weltmärkte zu niedrigen Löhnen mit günstigen Waren zu versorgen. Die politische Führung unterstützte diese Entwicklung.
Sie ließ Fabriken, Straßen, Schienen, Datennetze, aber auch Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bauen. Außerdem lenkte sie die Wirtschaft hin zu immer wertigeren Produkten. Von Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft hat ein Land ganz besonders profitiert: Deutschland. Denn die Deutschen lieferten die Geräte, Maschinen und Vorprodukte, die die chinesische Wirtschaft für ihren Aufstieg brauchte. Von Deutschland übernahmen die Chinesen zugleich viel Know-how und Managementwissen.
Für die Deutschen wurde China zum größten Absatzmarkt der Welt, und sie stießen auf dankbare Abnehmer. Sie kamen als Lehrmeister und fühlten sich in dieser überlegenen Rolle sichtbar wohl. Wenn es nach den Geschäftsleuten gegangen wäre, hätte es ewig so weitergehen können. Nun ist diese nützliche Wechselbeziehung zum Problem geworden. Von der großen Chance hat sich China zum vielleicht größten Dilemma für Deutschlands Wirtschaft und Politik gewandelt.
China ist nicht mehr der friedliche Riese, der sich nur entwickeln und seine Menschen aus der Armut holen will. Die Erwartung, das aufstrebende Land werde sich in die internationale Weltordnung einfügen, die Europa und die USA vorgegeben haben, erwies sich schlicht als falsch. China zeigt sich als mächtiger Spieler, der die globalen Beziehungen umformt und auf seine eigenen Interessen ausrichtet.
China ist auch nicht mehr der Bittsteller, der den Investoren dankbar ist und zu ihnen aufschaut. Insbesondere die Deutschen, die sich eben noch in der Rolle des Lehrmeisters gefallen haben, erleben hier manchen Schockmoment. Die Volksrepublik hat Deutschland in vielen Bereichen überholt und schickt sich an, die Technologien von morgen lange vor Deutschland zu besetzen. Deutsche Unternehmen müssen plötzlich von den überlegenen Chinesen lernen.
Geopolitisch stellt sich China als neue Weltmacht dar, die sich in ihrem weiteren Aufstieg von den USA behindert sieht. Unverhohlen unterstützt die Volksrepublik nicht nur das russische Kriegstreiben in der Ukraine, sondern schmiedet mit großem Erfolg neue Bündnisse mit Ländern des Globalen Südens.
China ist zugleich trotz seiner Öffnung nach außen immer ein Unrechtsstaat geblieben. Das hat Deutschland in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht davon abgehalten, immer mehr in die Volksrepublik zu investieren. „Wandel durch Handel“ lautete der Spruch, mit dem man sich das Engagement schönredete: Profit machen und dabei noch Gutes tun. Die Phrase musste vor allem dann herhalten, wenn die kommunistische Führung wieder besonders heftig gegen Dissidenten vorging, gegen Tibeter oder die muslimische Minderheit der Uiguren. Das Wegschauen rächt sich jetzt. Deutschland ist zum Komplizen der Unterdrücker geworden.
Kurzsichtiges Handeln, Unkenntnis der chinesischen Ziele und der chinesischen Vorgehensweise und eine gewisse Überheblichkeit holen Deutschland jetzt ein. Es hat sich abhängig von China gemacht – bis hin zur Erpressbarkeit. Die bekanntesten Großunternehmen wie VW und BASF und führende Branchen wie der Maschinenbau kommen ohne China nicht mehr aus.
Ohne Lieferungen aus China läuft in den Fabriken der EU kaum noch etwas. Das betrifft nicht nur Zulieferteile wie Batterien oder die für moderne Industrien so fundamental wichtigen Halbleiter, sondern auch Antibiotika oder Industrierohstoffe wie Seltene Erden. Deutschlands Energiewende beruht zum Teil auf günstigen Photovoltaikanlagen aus China. Chinesische Elektroautos sind nicht nur gut, sondern auch günstig. Deutschlands wichtigster Industriezweig steht unter Druck.
Wie konnte es so weit kommen? Hat China das alles bewusst eingefädelt? Waren wir blind oder naiv oder beides? Und vor allem: Wie kommen wir da wieder heraus?
In Deutschland fehlt Wissen über Chinas strategisches Handeln und seine Ziele. Ebenso wenig gibt es einen Konsens darüber, wie wir der Volksrepublik und ihrem weltweiten Machtanspruch gegenübertreten sollten.
Ein differenzierter Blick ist wichtig, denn für das China-Dilemma gibt es keine einfache Lösung. Wir müssen China genauer zuhören, aber wir müssen ihm auch deutlicher widersprechen. Wir müssen uns selbst ändern, um unseren Wohlstand und unsere Unabhängigkeit im globalen Wettbewerb zu erhalten. Die neue Konkurrenz aus Fernost kann auch eine Motivation sein, längst fällige Modernisierungen und Veränderungen mit Tatkraft und Optimismus anzugehen.
Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk: China – Auswege aus einem Dilemma, Ch. Links Verlag. Heute Abend ist Buchpremiere in Berlin.
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