In diesen Tagen beginnt der Betrieb der umstrittenen Aufnahmezentren für Migranten an der albanischen Adriaküste. Zum ersten Mal werden EU-Asylverfahren außerhalb der EU geführt. Es sind nur italienische Verfahren – und Albaniens Ministerpräsident Edi Rama sagte im Interview mit SZ Dossier, dabei werde es bleiben: „Wenn jemand anderes das bei uns anfragt, würde ich sagen, dass dies nicht etwas ist, das ausschließlich durch Albanien gelöst werden kann.“
Rama, ein robuster Verhandlungsführer, offeriert Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni einen Sonderstatus als diejenige, die ihn nachbarschaftlich um Gefallen und ein gemeinsames Experiment bat. Der westliche Balkan sei derzeit wie ein „Loch im Bauch Europas“, umgeben von den Grenzen der EU. Das könne für die Bewältigung der Migrationsfrage auch ein Vorteil sein, sagte Rama, zeige gleichzeitig aber, wie wichtig es sei, den Westbalkan „vollständig in die Europäische Union zu integrieren“.
Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Albaniens wurde 2021 zum dritten Mal in Folge zum Ministerpräsidenten gewählt. Im Sommer des vergangenen Jahres hat er gemeinsam mit Meloni den Plan entwickelt, auf albanischem Boden zwei zusammenhängende Lager einzurichten, in denen jährlich 36 000 Menschen verwaltet werden sollen. Die Lager wurden auf italienische Kosten gebaut und stehen unter italienischer Verwaltung.
Im Mittelmeer an Bord genommene Migranten sollen zunächst für eine erste Überprüfung in die Unterkunft am Adriahafen Shengjin gebracht werden. Das sollen nur erwachsene Männer sein, keine Frauen oder Minderjährige. Auch die von privaten Schiffen Aufgenommenen sind nicht betroffen. Anschließend kommen die Menschen in das nahe Hauptlager in Gjader, wo dann italienische Staatsbedienstete über ihr Asylbegehr entscheiden. Wer abgelehnt wird, kann gegen den Bescheid klagen, das Verfahren wird dann im Lager geführt. Nur wer anerkannt wird, kommt nach Italien, alle anderen sollen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. (Details von Marc Beise.)
Wenn es nach Rama geht, sollte jetzt eine umfassendere EU-Politik zusammen mit dem westlichen Balkan konzipiert werden. „Es kann auch nicht einfach wie das Abkommen zwischen uns und Italien sein, das keine direkten Vorteile für Albanien hat“, sagte Rama. Er fordert stattdessen ein Abkommen, das die Beziehungen und den Integrationsprozess sowohl in der EU als auch auf dem westlichen Balkan fördert.
Im Falle des Abkommens mit Meloni habe Albanien als ein „sehr verantwortungsvolles europäisches Land“ gehandelt. Ob das ein Vorbild sein könne? Die Zentren könnten laut Rama als Modell dienen, müssten aber noch getestet werden. „Zweifellos ist es eine kreative Initiative, die Giorgia gewollt hat“, sagte er. Eine Initiative, die illegale Einwanderung abschrecken solle – diese Wirkung habe sie auch.
Hinzu kommt: Albanien pflege eine „ganz besondere Beziehung“ zu Italien, nicht nur wegen der geografischen Nähe, sondern auch aus historischen Gründen. „Sowohl in der Antike als auch in der jüngeren Vergangenheit, als wir aus der Hölle des Kommunismus herauskamen und Italien der erste Ansprechpartner für unsere tiefe Krise war“, sagte Rama. Italien sei das Land gewesen, das Hunderttausende Albaner mit offenen Armen aufgenommen habe. „Wenn Italien um etwas bittet, können wir nicht Nein sagen.“
In der Umsetzung habe es sich die Regierung nicht leicht gemacht. „Wir haben mit unseren Anwaltsteams hart gearbeitet, denn es ist keine einfache Sache“, sagte Rama. Es habe viele Fragen gegeben bezüglich der Einhaltung der EU-Rechtsvorschriften oder der Menschenrechte. „Ich denke, wir haben das sehr gut gelöst“, sagte der Ministerpräsident. Allgemein gehe es in der Migrationspolitik darum, Illegales von Legalem zu trennen. „So sehr Europa die illegale Einwanderung mit all ihren Problemen nicht braucht, so sehr braucht es die legale Einwanderung, weil es so viele Arbeitskräfte benötigt“, sagte Rama.
Was den EU-Beitrittsprozess betrifft, gibt sich Rama optimistisch. „Unser Ziel ist es, vor 2030 fertig zu sein und die Reform bis spätestens 2030 abzuschließen“, sagte er. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte gestern bei der Westbalkankonferenz an, dass die EU in dieser Woche für fünf von sechs Ländern die von ihnen unterbreitete Reformagenda annehmen würde.
Das sei aber nicht genug: „Wir sollten so schnell wie möglich die individuelle Integration mit Europa durch den sogenannten leistungsorientierten Prozess vorantreiben und gleichzeitig in unserer Region die gleichen Bedingungen wie in der EU schaffen, was die vier Freiheiten betrifft“, sagte Rama. Damit meint er den freien Waren-, Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr, der die EU auszeichnet und den er auch im Westbalkan sehen will. Das wolle er umsetzen, um „durch praktisches Handeln zu lernen, was es heißt, Teil einer Realität ohne Grenzen zu sein, aber mit gemeinsamen Vorschriften und Zusammenarbeit.“