Wie können Zollbehörden in der EU jährlich vier Milliarden Päckchen kontrollieren? Gar nicht. Daher sollen die Urheber der Paketflut selbst in die Pflicht genommen werden, sagte Wirtschafts-Staatssekretär Sven Giegold (Grüne) im Gespräch mit SZ Dossier.
Das Bundeswirtschaftsministerium (BMWK) will vorhandene EU-Gesetze schnell nutzen, um den chinesischen Shopping-Plattformen Temu und Shein mit Bußgeldern drohen zu können, sollten sie weiterhin Waren in die EU schicken, die nicht den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Bei dem Gesetz handelt es sich um den Digital Services Act, der generell alle Formen von Internetplattformen reguliert.
Bisher sieht die Realität noch so aus: Die Verbraucher bestellen in China zu niedrigsten Preisen und erhalten die Ware direkt vom individuellen Anbieter per Luftpost. Anders als bei einem deutschen Einzelhändler prüft aber keiner, ob die europäischen Standards eingehalten werden.
Vor allem über die Temu-Produkte häufen sich die Klagen. In Deutschland warnt etwa der Verband der Elektrotechnik VDE vor elektrischen Schlägen durch Lichterketten und brandgefährlichen Netzteilen. Oft fehlt die deutsche Bedienungsanleitung. Südkoreanische Behörden wiesen krebserregende Substanzen in Nagellack oder Blei in Schuhen nach. „Ein klassisches systemisches Versagen wäre, wenn trotz entsprechender Hinweise keine Abhilfe geschaffen wird“, sagte Giegold. „Die Kontrolldichte beim Gemüsemarkt ist deutlich höher als bei Temu oder Shein, die sich bisher im rechtsfreien Raum wähnen.“
Die chinesischen Onlineverkaufsplattformen sind schwer für solche Verstöße gegen Sicherheits- und Umweltnormen in Haftung zu nehmen. Denn sie treten nur als Mittler auf. Firmen wie Temu und Shein bieten rechtlich gesehen gar keine Waren an, sondern nur die Software, mit der andere dann handeln. Sie verschicken die giftigen Produkte also nicht selbst. Der Importeur ist in vielen Fällen der deutsche Kunde.
Auf Verbraucherbeschwerde hin können die deutschen Behörden zwar aktiv werden und gegen einzelne Produkte und Händler vorgehen. Doch das zielt nach Giegolds Verständnis nur auf Einzelfälle, während er jetzt die Systemfehler hinter dem Missstand angehen will. „Auf dem europäischen Markt kann nur geduldet werden, wer sich an europäisches Recht hält“, sagte Giegold. Und das werde eben regelmäßig nicht gemacht.
Der Ansatz des Bundeswirtschaftsministeriums unterscheidet sich damit von Vorschlägen beispielsweise der SPD-Bundestagsfraktion. Diese hat ins Spiel gebracht, eine Freigrenze für den Warenwert von 150 Euro abzuschaffen, um gegen Temu und Shein vorzugehen. Das würde die Direktimporte teurer machen und mehr Kontrollen ermöglichen. Giegold hält das für sinnvoll, aber zu langsam. Eine neue Festsetzung der Freigrenze könnte Jahre dauern.
Der Digital Services Act (DSA) der EU ermöglicht es dagegen schon jetzt, Plattformen für die angebotenen Waren zur Verantwortung zu ziehen. Die EU-Kommission hat bereits im Juni begonnen, Selbstauskünfte der Plattformen einzuholen: Welche Mechanismen gibt es, um auf Klagen über nicht rechtskonforme Produkte zu reagieren? Mehrere EU-Mitgliedsstaaten wollen nun den DSA nutzen, um Temu und Shein – und generell alle Handelsplattformen – zur Kooperation zu zwingen.
Dazu müsste die EU nach den Ideen des BMWK folgende Schritte verfolgen: Sie muss erstens erfassen, wie hoch für jede Plattform der Anteil von verkauften Waren ist, der nicht den EU-Vorgaben entspricht. Übersteigt dann bei einer Webseite der Anteil der regelverletzenden Sendungen einen vorher festgelegten Schwellenwert – beispielsweise 25 Prozent – und wird keine Abhilfe geschaffen, kann sie Strafzahlungen verhängen. Im ersten Schritt wäre für sehr große Plattformen wie Temu eine Geldbuße in Höhe von sechs Prozent des weltweiten Umsatzes des Plattformbetreibers möglich.
Die Erwartung dahinter: Die Plattformen sollen ihrerseits Einfluss auf die Händler nehmen, keine Waren mehr einzustellen, die nicht auf Herz und Nieren geprüft sind. Auch in China gelten Regeln für Produkte, und die unterscheiden sich gar nicht so sehr von denen in Europa.
Die Verfasser des DSA hatten ursprünglich vor allem Plattformen wie soziale Netzwerke, Suchmaschinen und dergleichen im Hinterkopf, auf denen sich illegale Inhalte wie Verleumdungen finden oder von denen Gefahr für die Demokratie ausgeht. Doch die Definitionen passen ebenso gut auf Shopping-Seiten.
Um den Anteil von regelverletzenden Waren pro Plattform objektiv zu bestimmen, schlägt Giegold Testkäufe vor, die beispielsweise Dienstleister im Auftrag der EU durchführen können. Die Plattformen werden nur bei echtem Fehlverhalten bestraft. Indem ein Schwellenwert von problematischen Lieferungen erlaubt ist, kommt die Regulierung eben nicht einem Verbot der Anbieter gleich, sondern erlaubt grundsätzlich eine Fortsetzung von deren Geschäftsmodell.
Der DSA sei durchaus ein „scharfes Schwert“ gegen Plattformen, die sich dauerhafte Verstöße leisten, sagte Giegold. Nach dem Bußgeld in Höhe von sechs Prozent des jährlichen Umsatzes kann die EU regelmäßig weitere fünf Prozent des durchschnittlichen täglichen Umsatzes für jeden Tag kassieren, den die Anbieter die Missstände trotz Aufforderung nicht abstellen. Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk