CDU-Chef Friedrich Merz sagt, es brauche Zurückweisungen an den deutschen Grenzen, das Land sei überfordert, die Union will eine Notlage erklären. Gestern Nachmittag haben sich Opposition, Regierung, und Vertreter der Länder und getroffen, um darüber zu sprechen, SPD und FDP sind laut Reuters bereit, die Zurückweisungen an den Grenzen mitzutragen, die Grünen seien skeptisch, hieß es.
Es soll zeitnah weitergesprochen werden, laut Grünen-Politikerin Irene Mihalic vielleicht schon nächste Woche. Merz sagte auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg, wenn die Ampel sich nicht auf Zurückweisungen einige, würden keine weiteren Gespräche folgen. Doch geht das überhaupt, rechtlich und praktisch?
Das Problem: Die Dublin-Regeln im europäischen Asylsystem gelten, aber es hält sich kaum einer mehr dran.
Laut Dublin-System muss in der Regel der Staat, in dem ein Geflüchteter die EU zuerst betreten hat, den Asylantrag dieser Person prüfen. Wer als Geflüchteter über den Landweg nach Deutschland kommt, hat also normalerweise mindestens ein Land durchquert, in dem er seinen Asylantrag hätte stellen müssen.
Es ist allerdings so: „Sobald jemand deutschen Boden betritt und sagt, er möchte hier Asyl, muss sein Antrag, beziehungsweise frühere Anträge in einem anderen EU-Land, geprüft werden. Das geht nicht anders“, sagt Hans Vorländer, Vorsitzender des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR). Ist er bereits in einem anderen Land registriert und erklärt sich dieses Land bereit, ihn aufzunehmen, kann er oder sie dorthin zurückgeschickt werden.
Zahlreiche Länder würden die Menschen einfach durchwinken und anschließend hohe Hürden aufbauen, bevor sie „einige von ihnen zurücknehmen“, schrieb Merz in seiner „Merz-Mail“ am Wochenende. Europäisches Recht überlagert laut herrschender Rechtsmeinung deutsches Recht. Deutschland kann also nicht ohne Weiteres von den Dublin-Regeln abweichen.
Hier kommt Merz‘ Vorschlag ins Spiel. Er plädiert dafür, Spielraum im Vertrag über die Arbeitsweise der EU zu nutzen, um so die Dublin-Verordnung auszuhebeln. Eine Generalklausel, so Merz, würde es dem nationalen Gesetzgeber, also der Bundesregierung erlauben, eigene Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu treffen.
Es wäre jedenfalls lang genug Zeit, bis das EU-Gericht entscheidet, ob das rechtens wäre oder nicht. Geht es? „Theoretisch ja, aber ich glaube, dass das nicht realistisch ist“, sagt Vorländer. Außerdem würde dann ein Dominoeffekt einsetzen. Wenn Deutschland an den Grenzen zurückweise, entwickle sich ein Rückstau in anderen Ländern, die die Personen zuvor durchquert haben, sagt Vorländer. „Das hält Europa nicht aus.“ Es würde zu einer „rücksichtslosen Renationalisierung des gesamten Prozesses führen“, sagt er. Andere sehen genau darin auch Chancen.
Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz, sieht in der Aktivierung der Ausnahmeklausel eine „allenfalls kurzfristige Abhilfe“. Sie könnte aber „im Idealfall als Initialzündung dienen, um das europäische Asylrecht grundlegend umzugestalten“, schrieb Thym in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Grundidee der Flüchtlingskonvention müsse unter den Bedingungen der Globalisierung neu vermessen werden.
Jochen Kopelke, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, hält die Debatte um Merz‘ Vorschlag für einen „Schaukampf“, der in Deutschland geführt, aber in Brüssel entschieden werde. Es brauche eine eindeutige Rechtslage auf europäischer Ebene. Nach deutschem Recht seien Zurückweisungen möglich, nach europäischem Recht eben nicht. „Wenn der Auftrag unserer Dienstherren ist, Zurückweisungen durchzuführen, braucht es für unsere Polizeiarbeit eine einheitliche Rechtslage, sonst handeln wir Polizisten rechtswidrig und das darf nicht sein“, sagt Kopelke SZ Dossier.
Dazu kommen praktische Fragen. Auf die Sicherheitsbehörden käme mutmaßlich ein erheblicher Mehraufwand zu. Aktuell habe man gar nicht die Einsatzkräfte dafür, sagt Kopelke. „Deswegen werben wir dafür, durch Technik einen Teil des Personalproblems zu lösen.“ Aus dem Jahr 2015 gebe es ein erprobtes Digitalkonzept für Grenzkontrollen, sagt Kopelke. Das sei damals als absoluter Erfolg gewertet worden. Dabei gehe es darum, Fingerabdrücke und Dokumente sofort zu scannen und zu sichten, um sie schneller mit dem Netzwerk des Schengensystems auszutauschen. „Das würde uns sofort helfen.“ Kostenpunkt: 30 Millionen Euro für acht Module. „Seit zwei Jahren versuchen wir krampfhaft, das von der Bundesregierung zu bekommen“, sagt Kopelke. Bislang erfolglos.
Neben der Technik geht es ihm aber auch um bessere Koordination: Die einzelnen Behörden müssten sich besser abstimmen und vernetzen, sagt er. „Wer geht an welchen Grenzpunkt, in welches Waldgebiet, an welche Schleuser- oder Schmuggelroute?“ Das sei eine unglaubliche Koordinierungsleistung, die jetzt aber nötig sei und für die er Innenministerin Faeser in der Verantwortung sieht. „Sie muss das koordinieren und dafür werben, eine gemeinsame Lagebewältigung zu organisieren“, sagt Kopelke. Die Bundesregierung solle das Angebot der Opposition sofort annehmen, um die unionsgeführten Bundesländer einzubinden. Tim Frehler