Angesichts der Nachrichten aus Großbritannien am gestrigen Nachmittag konnte man glauben, eine Naturkatastrophe stünde bevor: Geschäftsinhaber schlossen ihre Läden, Parlamentarier sollten überlegen, lieber von Zuhause zu arbeiten. Und um die Ressourcen der Polizei zu schonen, unterbrachen sogar die Klimaaktivisten von „Just Stop Oil“ ihren Protest. Und tatsächlich glich das, was vor sich ging, einem heraufziehenden Sturm.
Großbritannien und seine Sicherheitskräfte bereiteten sich auf mehr als 100 Proteste vor, die Rechtsextreme für den Abend geplant hatten, wie Sky News berichtete. Doch auf Englands Straßen formierte sich diesmal Widerstand: Am Mittwochabend gingen Menschen in mehreren Städten des Landes gegen Rassismus und Hass auf die Straße, darunter in London, Sheffield, Bristol und Brighton. In Liverpool hätten sich mehrere Hundert Menschen versammelt, um ein Zentrum für Asylbewerber zu schützen, meldete die britische Nachrichtenagentur PA.
Passiert war Folgendes: Nach einer Messerattacke auf Kinder, bei dem drei Mädchen getötet wurden, ist das Vereinigte Königreich seit Tagen von rechten Ausschreitungen erschüttert worden.
Angetrieben wurden sie jedoch von Falschnachrichten, die im Internet kursierten. Der Täter sei angeblich der 17-jährige „Ali Al-Shakati“, ein Asylsuchender. Er sei vor einem Jahr mit einem Boot in Großbritannien angekommen, habe auf der Beobachtungsliste des MI6 gestanden und sei der Liverpooler Behörde für psychische Gesundheit bekannt gewesen. Informationen, die entweder falsch oder unbelegt sind. Der Name des Tatverdächtigen ist ein anderer. Wie die Polizei mitteilte, wurde er in Cardiff geboren. Berichten der BBC zufolge zog er 2013 in die Region Southport, seine Eltern stammen aus Ruanda. Und für die inländische Beobachtung von Terroristen ist nicht der MI6, sondern der MI5 zuständig.
Doch Falschnachrichten wie diese verbreiteten sich und zogen analoge Gewalt nach sich: Randalierer attackierten Asylbewerberunterkünfte, plünderten Geschäfte, griffen Polizisten an. Es könnte die schlimmste Welle rechtsextremer Gewalt der britischen Nachkriegszeit werden. Die Frage, die sich dahinter stellt, ist: Wie konnte es so schnell zu so einer Mobilisierung kommen?
Dominik Hammer ist Research Manager am Institute for Strategic Dialogue (ISD), er forscht unter anderem zu rechtsextremen Onlineaktivitäten auf alternativen Plattformen. Hammer führt die rapide Mobilisierung auf drei Faktoren zurück:
Erstens: Das Thema. Ein Angriff auf Kinder, bei dem rechtsextreme Akteure das Informationsvakuum rasant mit Falschbehauptungen hätten füllen können.
Zweitens, sagt Hammer, spiele die Art und Weise eine Rolle, wie in der britischen Politik über Migration gesprochen wird und wurde. Hammer denkt dabei etwa an Aussagen der damaligen Innenministerin Suella Braverman, die im Herbst 2022 von einer „Invasion“ von Asylbewerbern sprach. „Das trägt zur gesellschaftlichen Spaltung bei und schürt Ängste“, sagt Hammer.
Drittens habe sich das rechtsextreme Spektrum nicht erst von Grund auf organisieren müssen, sondern „hatte bereits eine digitale Infrastruktur aufgebaut und konnte dadurch mehrere Hunderttausende Leute erreichen“, sagt Hammer. „Dieses Netzwerk bestand schon, hatte die Adressaten und konnte dann Inhalte über Telegrammgruppen oder Twitter weiterleiten.“
Darunter seien neben Anhängern, der inzwischen aufgelösten „English Defence League“, einer rechtsextremen und islamfeindlichen Organisation mit Verbindungen in die Hooligan-Szene, auch sogenannte Active Clubs, „kleinere örtliche Vernetzungen“, sagt Hammer, „die eine Vermischung aus Kampfsport, aktivem Lebensstil und rechtsextremen Ideen verbreiten“. Und die offenbar auch dabei sind, sich in Deutschland zu etablieren. Das zeigt eine Untersuchung, die das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) im Juni veröffentlicht hat. Mindestens zwölf deutsche Gruppen seien bereits aktiv, „fitness- und kampfsportaffin“ und vereint in dem Ziel „einen angeblichen ‚weißen Genozid‘ zu verhindern“.
Ohnehin, so glaubt Dominik Hammer, sei man auch hierzulande nicht vor Ausschreitungen wie in Großbritannien gefeit. „Die Chancen für eine fremdenfeindliche Mobilisierung über Social Media sind in Deutschland nicht sehr viel anders als in Großbritannien.“ Tim Frehler