Mehr als 100 Vereine haben sich im Juni in einem offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz gewandt, darunter Kreisverbände der AWO, Flüchtlingshelfer, Vereine der Erinnerungskultur. Sie befürchten, ihnen könnte die Gemeinnützigkeit aberkannt werden, wenn sie sich für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit engagierten und zum Beispiel Demonstrationen gegen Rechtsextremismus organisierten. Das derzeitige Gemeinnützigkeitsrecht, so die Kritik, lasse Lücken, die ihnen die Arbeit erschwerten. Und die die AfD ausnutze, um sie beim Finanzamt anzuzeigen.
Für die Organisationen kann es drastische Folgen haben, wenn sie die Gemeinnützigkeit verlieren. Dann fallen Steuervergünstigungen weg, Unterstützer können Spenden nicht mehr von der Steuer absetzen. „Deswegen denken viele von uns über jedes Engagement zweimal nach – über jede Aktion, jede Demonstration, jeden offenen Brief“, heißt es in dem Schreiben.
Diese Unsicherheit wollte die Ampel eigentlich beenden, im Koalitionsvertrag hatte sie sich vorgenommen, das Gemeinnützigkeitsrecht zu modernisieren. Passiert ist lange nichts. Seit gut einer Woche liegt nun aber ein Entwurf für das zweite Jahressteuergesetz vor, der das Problem angeht. Was die Beamten des Bundesfinanzministeriums (BMF) aber in den Entwurf hineingeschrieben haben, geht einigen in – und außerhalb der Koalition – nicht weit genug. Die Unsicherheit bleibe. Und hinter all dem steht die Frage: Inwiefern dürfen sich gemeinnützige Organisationen wie Vereine und gemeinnützige Stiftungen eigentlich politisch betätigen?
An dieser Stelle lohnt ein Blick auf das Jahr 2019. Damals erkannte der Bundesfinanzhof dem Trägerverein des globalisierungskritischen Netzwerks Attac die Gemeinnützigkeit ab. Der fünfte Senat urteilte, gemeinnützige Organisationen dürfen zwar politisch aktiv sein, das Engagement müsse sich aber auf einen der Zwecke konzentrieren, die in der Abgabenordnung definiert sind. Dieser Katalog umfasst derzeit 26 Punkte, darunter etwa die Förderung der Religion, von Kunst und Kultur oder des Denkmalschutzes.
Der Referentenentwurf des BMF sieht nun vor, die Abgabenordnung zu ändern. Steuerrechtlich unschädlich wäre es demnach, wenn eine gemeinnützige Organisation „gelegentlich“ zu tagespolitischen Themen „außerhalb ihrer Satzungszwecke Stellung nimmt“, wenn also beispielsweise ein Sportverein zu einer Demo gegen Rassismus oder für Klimaschutz aufruft.
Diese Klarstellung sei ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Sebastian Unger, Vorstandsmitglied im Bundesverband Deutscher Stiftungen. „Was aber fehlt, ist eine Regelung der politischen Betätigung innerhalb der eigenen Satzungszwecke“, sagt Unger. „Eine Umwelt- und Tierschutzorganisation darf morgens Kröten über die Straße tragen. Aber darf sie sich auch am Nachmittag für die behördliche Sperrung von Straßen während der Hauptwanderzeit einsetzen?“ Die Rechtslage sei hier nicht eindeutig, mit der Folge, dass Organisationen „dann besser die Finger von der Politik lassen“, sagt Unger, der auch Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Universität Bochum ist. „Das Ergebnis ist dann eine relativ unpolitische Zivilgesellschaft.“
Auch die Koalitionspartner von Grünen und SPD sind mit dem Referentenentwurf nicht zufrieden. Sabine Grützmacher, zuständige Berichterstatterin der Grünen-Bundestagsfraktion, kritisiert: „Die Möglichkeit der politischen Betätigung für die eigenen Satzungszwecke findet sich nicht im Referentenentwurf.“ Sie fordert nicht nur diese Möglichkeit, sondern will den ganzen Katalog um neue Zwecke erweitern. „Sich für demokratische Werte und Menschenrechte einzusetzen“ sei im Entwurf „bedauerlicherweise“ nicht in der Liste der gemeinnützigen Zwecke festgeschrieben worden, sagt Grützmacher. Als „enttäuschend“ bezeichnet auch ihre Kollegin von der SPD, Nadine Heselhaus, dieses Ergebnis. Sollte es dabei bleiben, müsse man im parlamentarischen Verfahren nachbessern.
Ob die FDP die Forderungen der Koalitionspartner mitmacht? Momentan sieht es nicht danach aus. Der liberale Abgeordnete Max Mordhorst sagt: „Gemeinnütziger Verein und politische Partei sollten getrennt bleiben.“ Es gibt also noch Diskussionsbedarf. Nächste Woche soll der Entwurf das Kabinett passieren. Tim Frehler