Der Aufschrei war groß: 17 Prozent der jungen Leute haben bei der Europawahl für die AfD gestimmt, so viele wie für die Union. Das hat die Forschungsgruppe Wahlen unter 16- bis 24-Jährigen ermittelt. Ist die Jugend jetzt rechts? Nein, ist sie nicht. Schlicht, weil es „die Jugend“ nicht gibt. Zehn Prozent haben die Grünen gewählt, neun die SPD, acht Volt und sieben die FDP. Außerdem gilt das Wahlverhalten junger Menschen als volatil, sie sind noch nicht auf eine Partei festgelegt, probieren gerne aus.
Das zeigte zum Beispiel die vergangene Bundestagswahl, als Erstwähler vor allem Grüne und FDP wählten. Das ist nicht einmal drei Jahre her. Und bedeutet im Umkehrschluss: Man kann die jungen Leute zurückgewinnen. Bloß wie?
Im Fokus dieses Rätsels steht immer wieder die Kurzvideoplattform Tiktok, die gerade bei Jugendlichen besonders beliebt ist. In einem kürzlich erschienenen Report der Bildungsstätte Anne Frank wird sie sogar als „Leitmedium der Gen Z“ bezeichnet. Darin heißt es jedoch auch: „Die AfD führt das deutsche Polit-Tiktok seit Jahren an.“
Die Klimaaktivisten von Fridays for Future wollten das – auch im Vorfeld der Europawahl – ändern. #ReclaimTiktok war das Motto, das soziale Netzwerk zurückerobern. Ihr Ansatz klang durchaus vielsprechend. Weil Followerzahlen auf der Plattform nicht wirklich relevant sind, setzten die FFF-Aktivisten nicht auf einzelne Accounts, sondern auf die große Masse. Die Basis sollte es richten, indem jede und jeder, das eigene Video mit #ReclaimTiktok versieht und die Plattform damit mit Content geflutet wird.
Ganz ähnlich wie auch die AfD agiert, wo Anhänger von Maximilian Krah dessen Videos herunterladen, leicht umschneiden oder verändern und sie dann selbst wieder hochladen. Dem Tiktok-Algorithmus gefällt das. Krah umging auf diesem Weg die Einschränkung seiner Reichweite, die ihm Tiktok auferlegte, weil er gegen die Regeln der Plattform verstoßen hatte.
Aber hatten die Fridays Erfolg mit ihrem Vorgehen? Magdalena Hess war maßgeblich an der Strategie beteiligt. Sie sagt, das Ergebnis der Europawahl sei „weniger schlimm als erwartet“. Dennoch seien nicht alle ihrer Botschaften durchgedrungen. Auch bei der langfristigen Änderung des Diskurses auf der Plattform sei noch Luft nach oben. Denn genau das war der Plan. Die AfD bringe die Leute dazu, nur noch über ihre Themen zu sprechen, im progressiven Lager funktioniere das aber noch nicht, sagt Hess. Wie man das ändert? „Es geht nicht um einzelne Videos“, sagt Hess. „Sondern um die Organisation von Diskurs.“
Warum fällt es dem progressiven Lager so schwer, diesen Diskurs zu verändern? Einerseits liegt es an den Themen selbst. In einer Auswertung des Europawahlkampfs auf Tiktok, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) gerade veröffentlicht hat, heißt es: „Mit dem traditionellen Schwerpunktthema Klimawandel, dringen die Grünen ebenso wenig durch, wie die SPD mit Wirtschaftsfragen.“ Auffällig hingegen sei, bei Grünen und SPD, „wie stark die Präsenz auf Tiktok über die Diskussion um die AfD getrieben ist“. Die beiden Parteien erhalten also dann Reichweite, wenn sie sich mit der AfD beschäftigen – und verschaffen ihr so wiederum ebenfalls Reichweite, ohne dass die AfD dafür etwas tun muss.
Es fehle auch einfach an personeller Stärke, um der AfD in sozialen Medien etwas entgegenzusetzen, sagt Magdalena Hess. FFF habe nicht mehr so viele Leute wie früher. „Die Parteien hätten das aber“, sagt sie. „Tausend engagierte Accounts, die bloggen und teilen“, damit könnte man schon viel erreichen, sagt die Aktivistin.
Doch auch die Parteien tun sich schwer. Eine Auswertung von SZ Dossier zeigt, dass zum Beispiel die Grünen während des Wahlkampfes auf Tiktok sehr aktiv waren, die AfD bekam aber deutlich mehr Views. Emily Büning, Bundesgeschäftsführerin der Grünen, sagte SZ Dossier vergangene Woche: „Wir haben zu spät auf Tiktok gesetzt und die Plattform zu lange den Rechten überlassen.“
Eine Person, die sich bei den Grünen um Social Media kümmert, findet hingegen, die Partei habe nicht nur zu spät auf Tiktok gesetzt, sondern auch viel zu wenig dafür investiert – vor allem im Personalbereich. „Nach langem Hin und Her wurde zwar beschlossen, auf Tiktok aktiv zu werden. Zusätzliche Stellen für Videoeditoren wurden aber nicht in ausreichendem Maße geschaffen. Dabei bräuchte es noch deutlich mehr Personen, die sich professionell um Social Media kümmern.“
Es gebe auch noch ein weiteres Problem: Unter Grünen bestünden immer noch Vorbehalte, was das Aufnehmen und Weiterverbreiten von Videos angeht. Abgeordnete sowohl im Bund als auch in den Ländern seien zögerlich, Beiträge zu teilen, die nicht zu ihrem Themengebiet passten. „Viele posten noch immer lieber Sharepics aus dem Kreisverband, anstatt sich per Kurzvideo zu aktuellen Themen zu äußern oder Clips von Habeck, Baerbock oder anderen Kolleginnen und Kollegen zu teilen.“
Viel Zeit, um das zu ändern, bleibt nicht. Schon im September stehen die Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern an, 2025 die Bundestagswahl. Tim Frehler